Obertongesang

Obertönen = mehrstimmig singen

Eine neue Musik

Obertongesang und Synästhesie

Obertongesang und Musiktherapie

Ausgewählte Links

Literatur zu Obertongesang



Obertönen = mehrstimmig singen

eine der faszinierendsten Vokaltechniken der Welt
In der normalen Sprache hören wir die Obertöne der menschlichen Stimme nicht, weil wir auf die Bedeutung der Worte achten, weil wir eine Sprachmelodie haben und deswegen ständig den Grundton variieren, und weil wir zu schnell reden.

Spektrogramm Miau
Spektrogramm der Obertöne im langsam gesprochenen Wort "Miau", am Schluss Reibelaute der Luft an den Lippen. (Grafik: G. Kothe-Heinrich)

Auch beim Singen nimmt man normalerweise die natürlichen Oberschwingungen gar nicht wahr, da sie als individuelle Klangfarbe so selbstverständlich dazu gehören.
Die Obertonsänger/innen konzentrieren sich auf einen einzelnen Grundton, hören sehr bewusst hin und verändern die Resonanzräume im Mund. Dadurch gelingt es ihnen, die mitschwingenden Obertöne ins Hörbare zu verstärken. So entfalten die Obertöne, scheinbar frei im Raum schwebend, ihre zarte, sphärische Schönheit - eine akustische Entdeckungsreise, die von experimenteller Musik bis in meditative Bereiche führt.

Spektrogramm AIAIAI
Spektrogramm der Obertöne beim Obertonsingen der Vokalfolge A-I-A-I. (Grafik: G. Kothe-Heinrich)


Eine neue Musik

Westlicher Obertongesang ist eine circa 50 Jahre junge Musikrichtung - oder vielmehr eine Wiederentdeckung.
Seine Wurzeln findet er in der frühen westlichen Musikkultur, wie z.B. den Gregorianischen Chorälen. Da von mittelalterlicher Musik keine ausführlichen Noten überliefert sind, wissen wir heute nicht mehr, ob die Obertonmelodien dieser Gesänge bewusst mitkomponiert wurden. Vieles spricht aber dafür, dass sie auch damals wahrgenommen wurden: Einstimmigkeit, verlängerte Vokale und Position des Chorgestühls an Stellen mit Nachhall.
Durch den Siegeszug der Polyphonie (Mehrstimmigkeit) veränderten sich die Hörgewohnheiten später drastisch. Die Barocke und Klassische Musik versuchte dann die meisten Obertöne zu vermeiden, da sie das temperierte Tonsystem stören.

Erst Ende der 1960er Jahre wurden die Obertöne der menschlichen Stimme von den Komponisten wiederentdeckt. Teilweise trug dazu auch die Berührung mit zentralasiatischen Stimmtechniken bei. Besonders die Obertonvirtuosen Michael Vetter, David Hykes & The Harmonic Choir (seit 1975) und Christian Bollmann mit dem Oberton-Chor Düsseldorf (seit 1985) haben den westlichen Obertongesang entscheidend geprägt.


Obertongesang und Synästhesie

Manche Menschen nehmen beim Obertönen Sinneseindrücke wahr, die über das Hören hinausgehen: sie sehen leuchtende Spektralfarben oder empfinden Formen, Geschmackseindrücke oder Gefühle.
Dieses Phänomen der Vermischung von Sinnesqualitäten trägt den Namen Synästhesie und ist im Alltagserleben (zumindest bei Erwachsenen) ziemlich selten. Kinder sind dafür aber noch sehr empfänglich: so bezeichnen z.B. alle Kleinkinder hohe Töne als "hell" und tiefe als "dunkel". Es ist bekannt, dass unter Drogeneinfluss auch normal-wahrnehmende Erwachsene synästhetische Empfindungen haben. Auch das Obertonsingen kann zu solchen Erweiterungen der Wahrnehmung führen.
Welche Farbe haben die Klangfarben?
Der Begriff Klangfarben deutet ja bereits eine visuelle Wahrnehmung an. Tatsächlich ist das Farbenhören die häufigste Form der Synästhesie. Die Zuordnung von Farben zu bestimmten Tönen scheint dabei individuell verschieden zu sein. Das ist überraschend: eigentlich erscheint es doch plausibel, dass bestimmte Klänge mit bestimmten Spektralfrequenzen gekoppelt sind. Wurde bei früheren Vergleichen möglicherweise die Rolle der Obertöne - welche ja schließlich die Klangfarben ausmachen - übersehen? (Ob der Ton A beispielsweise von einer Trompete oder einer Geige erzeugt wird, macht doch bereits für jeden Nicht-Synästheten einen großen Unterschied.)
Es wäre interessant, einmal die Beziehungen zwischen Obertönen und Farben zu erkunden. Wir freuen uns, wenn Sie uns Ihre Beobachtungen oder Anmerkungen zu diesem Thema zusenden.


Obertongesang und Musiktherapie

Zusätzlich zu seiner musikalischen Faszination hat das Obertonsingen auch heilende Wirkungen, sowohl auf den Körper als auch auf den Geist. Diese Heilkraft setzt die moderne Musiktherapie inzwischen vielfach ein.

Die wirksamen Prinzipien dabei sind Schwingung und Entsprechung (Resonanz): "Wird durch Gesang eine bestimmte Schwingung erzeugt, so beeinflusst diese alle anderen Schwingungsmuster, mit denen sie in Berührung kommt. ... Die erzeugte Frequenz wirkt nicht nur in dem Bereich ihrer Erzeugung und akustischen Wahrnehmung, sondern in entsprechender Weise auch in tieferen und höheren Oktaven anderer Schwingungsarten. So ist es zu erklären, dass Töne auf den Körper, das Energiesystem, auf Emotionen und bis in geistige Bereiche hinein wirksam sind." (Markus Riccabona).

Tatsächlich ist auch der menschliche Organismus in seinen rhythmischen Funktionen nach den Gesetzen der Obertonskalen organisiert, wie der Chronobiologe Gunther Hildebrandt nachgewiesen hat. Wenn wir schlafen, schwingen die Körperfunktionen in eine strenge musikalisch-harmonische Ordnung ein, damit wir uns erholen und regenerieren. Am Tage löst sich diese Ordnung durch unsere Aktivitäten in charakteristischer Weise auf: Die komplexeren Stoffwechselrhythmen wechseln je nach Beanspruchung in eine Oberton- und Untertonreihe von bestimmten harmonischen Frequenzen. Dagegen verändern sich die Rhythmen von Gehirn und Nerven durch gleitende Frequenzmodulationen, spielen also quasi eine Melodie und sind obertonarm. Die Atmungs- und Kreislaufrhythmen können sich auf beide Arten ändern.

Wir von Cantejondo haben beispielsweise festgestellt, dass wir uns nach unserem Obertonsingen entspannt, aber oft auch hungrig fühlen. Das zeigt doch sehr schön, dass Obertöne sowohl auf Atmung und Herzschlag, als auch auf den Stoffwechsel zurückwirken.

Über die körperlichen Wirkungen hinaus vertieft Obertongesang beim Singenden die Wahrnehmung. "Lenkt die Veränderung des Grundtones (die Melodie) die Aufmerksamkeit nach außen, an die Oberfläche, so führen der Klang (die Obertöne) zur inneren Wahrnehmung, zur Meditation. ... Eine der wesentlichsten Erkenntnisse, die der Obertongesang schenkt, ist: alle Töne sind in jedem einzelnen Ton enthalten - in der unendlichen Obertonreihe, die jeder Ton als Potential in sich birgt. Alles ist eins." (Markus Riccabona).

Bei intensiver Improvisation können die Obertonsänger/innen ihr Bewusstsein erweitern und ihr ganzheitliches Selbst erleben. Die darauf gründenden spirituellen Heilanwendungen reichen von traditionellen Schamanischen Gesängen bis zu heute noch praktizierten Techniken wie "Die eigene Stimme finden", Mantren- und Chakrensingen, Energiearbeit etc.

Ausgewählte Links

Stimme und Phonetik
  • Wissenschaftliche Erklärungen für die Klangerzeugung im menschlichen Vokaltrakt liefert die Akustische Phonetik. Hier erfährt man auch, dass die Obertöne der Stimme nicht einfach mit denen von Saiteninstrumenten gleichzusetzen sind. Es handelt sich vielmehr um Formanten, stehende Wellen, die erst durch Resonanz des Vokaltraktes mit den Obertönen des an den Stimmlippen erzeugten Klangs entstehen.
Obertongesang
  • Obertonportal von Wolfgang Saus: umfangreiche Infos zum Obertongesang, Techniken und Klangentstehung, Literatur, Hörproben und Noten zum Herunterladen.
     
  • Webseite von Christian BollmannInformationen zum Obertongesang, zur westlichen Tonkultur und zur Geschichte der Obertöne, Soundbeispiele.

  • Markus Riccabona: "Viele Stimmen aus einer Kehle - Die alte Kunst des Obertongesanges als Wegweiser im Paradigmenwechsel unserer heutigen Zeit". Lesenswerter Artikel über die Blütezeit des Obertongesangs in der Gregorianik, seine Ursprünge in schamanischen Traditionen, Bewusstseinsveränderungen durch Gesang, Heilkraft der Obertöne, und die Technik des Obertonsingens.
  • Wolfgang Barke: Online-Workshop zum Obertonsingen.
Synästhesie
Musiktherapie

Literatur zum Obertongesang

Videos

Improvisationen des Obertonchors Darmstadt im historischen Wasserspeicher auf der Mathildenhöhe Darmstadt, am Tag des offenen Denkmals 12.9.2004:

 

"Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt besünge
und nähm doch Schaden an seiner Kehle"

Peter-T. Schulz (der Olle Hansen)
 
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