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Henri Band

So sprach der große E

Rezension zu: Klaus-Peter Möller: Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache. Erweiterte Fassung der in literaturkritik.de, 3. Jg. (2001) Heft 7 (Juli), Ästhetik & Kommunikation, Heft 113, 32. Jg. (Sommer 2001), S. 120-122, und in Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal, 12. Jg. (2001) Heft 4, S. 126-128, erschienenen Besprechungen.

© Henri Band

Sind Sie schon einmal einem Tageschwein, einem Hüpper oder gar einem ideologischen Gartenzwerg begegnet? Waren Sie schon im Land der drei Meere, in der Dachsfarm oder in einer Bummistunde? Wissen Sie, wie man Schildkröte und Taschenbillard spielt? Haben Sie jemals Atombrot oder Bismarckhusten essen müssen, einen blauen Würger getrunken und sich vor Hängolin gefürchtet? Sie verstehen nur Bahnhof? Dann sind Sie offensichtlich nie in Hoffmanns bzw. Keßlers Trachtengruppe aufgetreten. Zu Ihrem Glück. Gemeint ist nämlich die NVA, die Nationale Volksarmee der DDR.

Militärische Organisationen gehören zu jener Kategorie von mehr oder weniger geschlossenen Anstalten, die der amerikanische Soziologe Erving Goffman vor drei Jahrzehnten als "totale Institutionen" bezeichnet hat (1973: 13ff.). In ihnen blüht ein spezifischer "Anstaltsjargon", der die allgegenwärtigen Macht- und Abhängigkeits­beziehungen zwischen den Insassen und dem Aufsichtspersonal auf verschrobene Weise zum Ausdruck bringt. Der Germanist Klaus-Peter Möller hat in akribischer Arbeit ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache zusammengetragen. Begonnen hat er damit schon Anfang der achtziger Jahre während seines eigenen Wehrdienstes als Unteroffizier auf Zeit im berühmt-berüchtigten Eggesin und in Rostock. Ihre Fortsetzung fand die Sammeltätigkeit in den Jahren des Studiums in Potsdam und insbesondere während einer dreimonatigen Reserveoffiziersausbildung in Seelingstädt, auch Seelingrad genannt. Darüber hinaus hat er Zeitzeugen befragt, Zuschriften auf einen in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichen Aufruf ausgewertet sowie die einschlägige belletristische und autobiographische Literatur gesichtet. Das bürgt hinreichend für die Authentizität des Materials und den erreichten Grad seiner Vollständigkeit. Herausgekommen ist nicht nur ein philologisches Wörterbuch einer Spezialsprache, das höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern ein vielschichtiges Porträt des Alltags in den Kasernen der DDR. Neben den damals gebräuchlichen Ausdrücken des Soldaten- und zum Teil auch Offiziersjargons aus allen militärischen Bereichen und Einheiten und kurzen Erklärungen ihrer Bedeutungen finden sich Redewendungen, Rituale, symbolträchtige Gegenstände (Idole) und eine Auswahl an Liedern, Witzen, Dokumenten und Fotos.

Einmal mehr erweist sich die gesprochene Alltagssprache als ein hervorragender Seismograph des sozialen Zusammenlebens von Menschen. Der Wehrpflicht konnte sich in der DDR praktisch kein Mann entziehen. Die Zwangssituation der Kasernierung der Soldaten bildete den Nährboden für die Herausbildung einer spannungs- und konfliktgeladenen Sondersprache. Die Sprachsozialisation wurde durch die sehr weit gehende Abkopplung der Wehrdienstleistenden vom Zivilleben zusätzlich forciert. Die Mannschaftsdienstgrade erhielten nur relativ selten Ausgang und Urlaub. Über vier Fünftel der Truppe hatten auch an den Abenden und am Wochenende in den spartanischen Unterkünften auszuharren, um stets eine hohe Gefechtsstärke der NVA zu gewährleisten. Tagedrücken und Kasernenkoller waren keine Seltenheit und wurden in verschiedenen (Sprach‑)Ritualen abreagiert. Diese Zwangssituation erklärt die Zwiespältigkeit, Aggressivität und Affektgeladenheit der Umgangssprache in den Kasernen der DDR. Sie ist eine Sprache der Unterdrückten und der Unterdrückung, der Ohnmacht und des Widerstandes, des Frustes und des Triumphes über den alltäglichen Stumpfsinn. Und sie ist eine Sprache der Männer, die bekanntlich in anstaltsmäßig zusammengefaßter Gruppe schnell vulgär, zotig und sexistisch werden.

Das Wörterbuch erschließt den Militäralltag als eine durchherrschte und demoralisierende Ordnung. Das heißt nicht, daß sich die Soldaten nicht ihrer Haut zu wehren wußten. Das Buch dokumentiert auch den reichen Schatz an verbalen und rituellen Widersetzigkeiten, der sich unter dem Druck des Dienstregimes entwickelt und behauptet hat. Viele Wörter der offiziellen DDR-Militärsprache hatten soldatenmundartliche Pendants, die den dienstvorschriftsmäßigen Sinn der Offizialsprache ad absurdum führten. Die meisten Wehrpflichtigen traten nicht ihren Ehrendienst in der NVA an, sondern gingen zur Asche. Aus dem Politunterricht wurde in der Sprache der Soldaten die Bummistunde bzw. Rotlichtbestrahlung und aus dem als Belobigung gemeinten Bild vor der entfalteten Truppenfahne ein Aktfoto vor der ausgebreiteten Tischdecke.

Angesichts solch virtuoser Sprachschöpfungen, die ihr derb-ironisches Spiel mit der Idiotie des Kasernenlebens treiben, könnte man versucht sein, in den NVA-Soldaten nur die kollektiven Nachfahren Schwejks zu sehen. Gegen diese einseitige Deutung sprechen die gleichfalls sehr zahlreichen Wortprägungen und Rituale, die in den Rangkämpfen zwischen den Soldaten zum Einsatz kamen. Sie enthüllen die Funktionsweise einer Herrschaftsordnung, in der die Herrschaftsunterworfenen durch ihr Verhalten, trotz aller rebellischen Tendenzen, aktiv zum Erhalt dieser Ordnung beitrugen. In der NVA geschah dies vor allem durch die E- bzw. EK-Bewegung. Es gab eine strikte Rangordnung der Diensthalbjahre, und die Sprache war eines der wichtigsten Instrumente, mit denen diese Rangordnung reproduziert wurde. Die Stellung eines Soldaten in der inoffiziellen Hierarchie leitete sich aus der Tageszahl ab, die er noch zu dienen hatte. "Jede Hierarchiestufe verfügte über ein Arsenal an charakteristischen Ritualen, Bräuchen, Erkennungszeichen, Redensarten und Symbolen." (S. 15) Mit der Zugehörigkeit zu den jeweiligen Diensthalbjahren waren bestimmte Rechte und Pflichten verbunden. An der Spitze der Hierarchie stand der Entlassungskandidat (E bzw. EK), dem die anderen Diensthalbjahre zu Willen zu sein hatten. Der E denkt, der Vize lenkt und der Spritzer rennt, hieß es damals nicht nur zum Spaß. Lästige Arbeiten wie Stuben- und Revierreinigen blieben dem ersten Diensthalbjahr vorbehalten. Die Führungsarbeit überließ der große E den Zwischenpissern; für sich selbst beanspruchte er Ruhe, Geborgenheit und Wärme (RGW). Die Pflichten der Glatten reichten je nach moralischem Format der E's von eher harmlosen Spielen wie Dachsduschen oder Betteinstieg trainieren (ohne das Bett des E's zu erschüttern) bis hin zu schikanösen Praktiken wie Musikbox und sibirischer Winter (Reinigen des mit Scheuerpulver bestreuten Fußbodens). Es kam aber auch vor, daß die E's die ihnen gleichsam zum Schutz und zur Betreuung anbefohlenen Soldaten des ersten Diensthalbjahres vor Willkürakten der Offiziere und Unteroffiziere bewahrten. Doch insgesamt verlängerte die E-Bewegung das militärische Prinzip des ranggebundenen Gehorsams bis in die Soldatenstuben und die wenigen Stunden der Freizeit hinein und trug auf diese Weise zur Stabilisierung der Herrschaftsordnung bei (S. 15). Diese Komplizenschaft irritiert um so mehr, als die politisch-ideologische Indoktrination der Wehrpflichtigen weitgehend scheiterte, wie der Autor in der Einleitung zu Recht feststellt (S. 20). Die der Dienstvorschrift und dem propagierten Ideal sozialistischer Beziehungen zwischen den Wehrdienstleistenden (auf der Basis von kameradschaftlicher Zusammenarbeit, gegenseitiger Hilfe und Achtung) zuwiderlaufende Differenzierung und Umverteilung der Macht zwischen den Soldaten zugunsten der E's folgte einer eigenen Logik, die auch aus anderen, von starken Machtgefällen geprägten Organisationen bekannt ist. Das Bemühen der mit der Organisationswirklichkeit und ihren geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen am besten, weil am längsten Vertrauten, sich kleine Privilegien zu schaffen und lästige Pflichten zu delegieren, mündet in eine hierarchische Ordnung, die die neu in die Organisation eintretenden Mitglieder systematisch benachteiligt. Die informelle Rangordnung nach Diensthalbjahren setzte sich in nahezu allen Kasernen der DDR durch, ja selbst in Unteroffiziers- und Offizierskreisen gab es vergleichbare Systeme (S. 14). Obwohl subversiv in manchem Inhalt und mancher Form, wurde die E-Bewegung von Offiziersseite zumeist stillschweigend geduldet und mitunter sogar aktiv gefördert, weil sie die Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin erleichterte und das Risiko einer übergreifenden Solidarisierung der Soldaten gegenüber ihren Vorgesetzten senkte. Den Soldaten selbst wiederum bot dieses System einen internen Kompensationsmechanismus für den Druck des Dienstregimes und ein an die gediente bzw. noch zu dienende Zeit gebundenes eigenes Gratifikations- und Aufstiegssystem, dessen demokratisches Prinzip darin bestand, daß irgendwann jeder einmal zum E geschlagen werden würde. Wer jedoch nicht mitspielte bei den E-Belustigungen und mit seinem Frust nicht hinterm Baum hielt, bis er selbst E war, hatte einen sehr schweren Stand.

Natürlich stellt sich zwangsläufig die Frage nach den DDR-Spezifika der NVA-Soldatensprache und der E-Bewegung im Vergleich zur Bundeswehr, zur Wehrmacht oder zu den Verhältnissen in den sozialistischen Bruderarmeen. Die E-Bewegung war sicherlich ein Mechanismus zur Unterdrückung der Soldaten und Unteroffiziere der unteren Diensthalbjahre, aber sie nahm nie die Ausmaße an, wie das "dedovšcina"-System in der Sowjetarmee, das offiziellen Angaben zufolge zwischen 1975 und 1990 zehntausenden Soldaten das Leben gekostet hat. Möller beschränkt sich auf einige Hinweise, hält sich aber mit einem allgemeinen Urteil zurück (S. 18ff.). Die Leistung des Wörterbuches besteht vor allem darin, die materialen Voraussetzungen für einen solchen Vergleich geschaffen zu haben. Grundsätzlich lassen sich in allen Richtungen Einflüsse, Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden. Weder die Behauptung einer Einmaligkeit noch die These von der Allgemeingültigkeit der Soldatensprache in der DDR halten einer kritischen Prüfung stand. Die eigentlich systematisch interessante Frage ist aber, ob das jeweilige Gesellschaftssystem und die Art der Einbettung der Armee in dieses System einer Soldatensprache ihre besonderen Züge, ihren Dialekt verleihen oder ob vielmehr die innere Organisationswirklichkeit des Kasernenlebens und der Grad ihrer Abschließung gegenüber dem Zivilleben draußen die eigentlich stilprägenden Faktoren bilden. Nicht wenige Konflikte zwischen den Soldaten untereinander und zwischen ihnen und den Offizieren rührten allerdings einfach auch daher, daß Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und Milieus, mit unterschiedlichsten Bildungsgraden, Überzeugungen und Biographien, auf engstem Raum zusammengezwungen wurden und miteinander auskommen mußten. Selbst bei rechtschaffenen Menschenliebhabern kam es nach einem längeren Aufenthalt in einer 10-Mann-Unterkunft irgendwann einmal zumindest zu verbalen Entgleisungen. Die außerordentliche stilistische Bandbreite der Wortprägungen und Redewendungen läßt auf beträchtliche soziale und Bildungsunterschiede ihrer Schöpfer schließen. Die Fäkaliensprache war ohne Zweifel eine bevorzugte Domäne der Männer mit proletarischem Hintergrund, die die stärkste Fraktion unter den Soldaten bildeten und im übrigen auch unter den Offizieren ein starkes Kontingent stellten. Zur Integration dieser heterogenen Milieus trugen wiederum die männerbündischen Züge des Armeelebens bei. Zahlreiche der in dem Wörterbuch dokumentierten vulgären und zotigen Ausdrücke, der archaisch anmutenden Rituale und E-Belustigungen dienten der männlichen Selbstinszenierung durch kollektive Grenzerfahrungen, die bis heute von vielen ostdeutschen Männern als Schlüsselerlebnisse erinnert werden. Insofern liefert das Buch auch instruktive Einblicke in einen Kernbereich der Geschlechtersozialisation in der DDR.

In der kollektiven Erinnerung vieler ehemaliger Wehrdienstleistender scheinen allerdings die schrägen Geschichten und ausschweifenden Gelage zu dominieren, die es damals eben auch gab: der kollektive Sieg der Truppe über den hysterisch brüllenden Feld-, Wald- und Wiesenwebel, die UE-Gänge mit Einkehr in eine Gartenschänke und Rückkehr mit einer Tasche voller Glasmantelgeschosse und natürlich die Feier des Anschnittes des Bandmaßes, dem mit Abstand wichtigsten Idol der E's. Ein klassischer Fall von Verdrängung. Und eine männliche Form von Selbstbehauptung: sich der Erlebnisse zu brüsten, die man letztendlich doch überstanden hat. Wer jedoch diese Männer damals gesehen hat, wie sie aus ihren viel zu kurzen Urlauben wie Geschlagene durch das KdL schlichen oder torkelten, wußte, wie ihnen wirklich zumute war und daß sie nur einen einzigen Tag ihrer Dienstzeit in vollen Zügen genossen haben: den Tag der Befreiung, den Entlassungstag aus der Armee.

Literatur

Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Möller, Klaus-Peter (2000): Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache. Berlin: Lukas Verlag.

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