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Henri Band

Die Erlebnisgesellschaft

Rezension zu: Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs. 5. Jg. (1994) Heft 2, S. 112-117. Leicht verändert.

© Henri Band

Was in der Wirtschaft die Trendmeldungen, das sind in den Sozialwissenschaften die Bindestrichgesellschaften: sie sollen zeigen, wo es historisch mit uns langgeht. Die Regelmäßigkeit, mit der solche auf Grundsätzliches abzielenden Wortverbindungen in und über den sozialwissenschaftlichen Diskurs hereinbrechen, verweist auf ein weitverbreitetes Verlangen, die Zeichen der Zeit auf eine möglichst griffige Formel zu bringen. Was hat es nicht allein schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges – nicht mitgerechnet die terminologischen Neu- und Nachauflagen und die Unmenge an adjektivischen und temporalen Abwandlungen – für Bindestrichgesellschaften gegeben: die Industriegesellschaft, die Dienstleistungsgesellschaft, die Konsumgesellschaft, die Freizeitgesellschaft, die Informationsgesellschaft, die Risikogesellschaft, die Wissensgesellschaft, die Multioptionsgesellschaft. Gerhard Schulze hat diesen Kreis in einem voluminösen Werk um die Erlebnisgesellschaft bereichert. Allerdings hat er es nicht auf die Diagnose der westlichen Gesellschaft als solche abgesehen. Ihm geht es in dem Buch zunächst um eine Kultursoziologie der Bundesrepublik Deutschland der 1980er Jahre. Auch beteuert er in der Einleitung, daß im gewählten Titel "nicht eine absolute, sondern eine komparative Charakterisierung der Gesellschaft zum Ausdruck kommen" soll. Die Bundesrepublik ist keine Erlebnisgesellschaft sui generis, sie ist es nur mehr als andere bzw. mehr als in früheren Epochen (S. 15). Gleichwohl repräsentiert sie kulturhistorisch eine Entwicklungsstufe, die, zumindest für die westlichen Industriegesellschaften, einen über das singuläre historische Fallbeispiel "Erlebnisgesellschaft Bundesrepublik" hinausgehenden Geltungsbereich beanspruchen kann und wahrscheinlich auch soll.

In einem phänomenologischen Einstieg verweist Schulze auf die sich ausbreitenden Ästhetisierungs- und Stilisierungsprozesse in der Welt der Waren und Dienstleistungen, die auch vor offenkundigen Gebrauchsgütern nicht haltmachen, ja den Gebrauchswert selbst zu einer strategisch eingesetzten Stilisierungskategorie werden ließen. Ein allgemeiner Trend zur Akzentuierung des Erlebniswertes der Güter und Angebote bricht sich Bahn, dessen kultursoziologische Tragweite über die Warenwelt hinausreicht. Im Zuge einer sich allgemein durchsetzenden Erlebnisorientierung der Menschen – so die zentrale Ausgangsthese – sei das "Leben schlechthin [...] zum Erlebnisprojekt geworden" (S. 13). Dieser Wandel der Lebensperspektiven konnte nicht ohne Folgen für die Gesellschaft bleiben, und dem Aufweis dieser Folgen ist das Buch gewidmet.

Als kultur- und sozialgeschichtliche Voraussetzung und Erklärungsgrundlage für die Ästhetisierungsprozesse indiziert Schulze die Entstehung und Entfaltung der Überfluß- bzw. Wohlstandsgesellschaft nach 1945. Diese hat die "Knappheitsgesellschaft" hinter sich gelassen, alle existentiellen Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt und ungeahnte Möglichkeiten für die freie Lebensgestaltung eröffnet. Von der Sorge ums nackte Überleben befreit, aus der zwanghaften Beziehungsvorgabe durch Institutionen und Traditionen entlassen und einem überbordenden Markt von Gütern und Dienstleistungen anheimgegeben, sieht sich das moderne Subjekt "Bundesbürger" einem neuen existentiellen Problem gegenüber: der möglichst erlebnisreichen Gestaltung seines im Grunde nur noch von Langeweile bedrohten Lebens (S. 140).

Der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit – er hat also stattgefunden, wo es kein orthodoxer Marxist vermutet hätte: in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft in den Farben der Bundesrepublik. Mit dem Verschwinden einer von materieller Not und Knappheit der Ressourcen geprägten Gesellschaft und der Herausbildung eines jedermann zugänglichen Marktes voll konkurrierender Konsum- und Erlebnisangebote etablierte sich auf deutschem Boden eine quasikommunistische Erlebnisgesellschaft, in der die von Marx prophezeite Losung: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" zumindest auf dem Erlebnismarkt Wirklichkeit geworden ist.

Mit der Entstehung der Erlebnisgesellschaft setzt sich bei den Subjekten eine neue Handlungsorientierung und eine neue Handlungslogik durch. In der Tradition der Handlungstheorie Max Webers und dessen verstehender Soziologie komplettiert Schulze die Typen des sozialen Handelns um den für die Gegenwart spezifischen Typus des erlebnis- bzw. innenorientierten Handelns. Nicht die Erlebnishaftigkeit ist also neu – diese ist eine anthropologische Dimension der menschlichen Existenz –, neu ist die rational reflektierte und gehandhabte Erlebnisorientierung der Menschen. In Anlehnung an die Webersche Terminologie kann man diesen Handlungstypus als affektrationales Handeln bezeichnen. Kurz: In der Erlebnisgesellschaft wird nunmehr auch die Ausschüttung körpereigener Glückshormone gesellschaftlich reflexiv und Gegenstand psychotechnischer Beeinflussungsversuche. Diese zur Richtschnur unseres Handelns erhobene kulturspezifische "Basismotivation" der modernen Subjekte findet ihr Ziel und ihre Erfüllung in der Realisierung des Projektes "Schönes Leben", dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Lebensauffassungen der Menschen in der Erlebnisgesellschaft. "'Erlebe dein Leben!'" sei zum "kategorische[n] Imperativ unserer Zeit" geworden und die Erlebnisorientierung zum dominierenden Handlungstypus der Gegenwart (S. 59).

Der veränderten Lebensorientierung der Subjekte korrespondiert eine gewandelte Handlungslogik. Schulze unterscheidet sechs mögliche Modi der Beziehung zwischen Situation und Subjekt. Von seiten der Situation handelt es sich um die Modi Begrenzen, Nahelegen und Auslösen, von seiten des Subjekts um die Handlungsmodi Einwirken, Symbolisieren und Wählen. Die vom Überfluß gekennzeichnete Angebotssituation für Waren, Dienstleistungen und Lebensprojekten in der Erlebnisgesellschaft hat zu signifikanten Relevanzverschiebungen zwischen diesen Modi geführt. Der Modus des Wählens ist zur aktuell dominierenden Handlungsform geworden. Die subjektbestimmten Entscheidungs- und Unterscheidungsprozesse auf dem Erlebnis- und Konsummarkt folgen dabei im wachsenden Umfang ästhetischen Kriterien und den Erlebnisbedürfnissen der Menschen.

Das einer wählerischen Alltagsästhetik folgende erlebnisorientierte Handeln hat, so der weitere Gedankengang, in den 1980er Jahren mehr und mehr eine milieukonstituierende Kraft erlangt. Die durch den Abbau ständischer Zugangsbarrieren zu bestimmten Gütern und Stilmustern und dem wachsenden Wohlstand vermehrten Wahlmöglichkeiten konstituieren gleichsam einen fundamental neuen, von Ästhetisierungsprozessen getragenen Rahmen für die Identitäts-, Gruppen- und Milieubildung. Für Schulze verbirgt sich dahinter ein grundlegender Wandel der Semantik der Gesellschaftsbildung, dem eine moderne Kultursoziologie mit einem veränderten theoretischen Modell Rechnung tragen muß: in Form einer "subjektorientierten Strukturanalyse", die die Handlungsoptionen der Akteure auf dem Erlebnismarkt, die ihnen zugrundeliegenden alltagsästhetischen Schemata und die daraus erwachsende Milieukonstellation zum Thema hat.

Die offene, erlebniszentrierte Handlungsdynamik in der Überflußgesellschaft rechtfertigt jedoch keine generelle Absage an die strukturierte Großgruppengesellschaft im Namen der These der postmodernen Beliebigkeit und durchdringenden Individualisierung der Lebens- und Erlebnisweisen. Vielmehr "wächst auf dem gemeinsamen Boden genereller Innenorientierung" resp. Erlebnisorientierung eine "Artenvielfalt von Stiltypen" und Milieus (S. 123). Sie stellen die aktuellen Kombinationen dreier grundlegender alltagsästhetischer Schemata dar, die, als Resultat einer kollektiven Kodierung des Erlebens, den alltagsästhetischen Entscheidungsprozessen als Orientierungsschemata zugrunde liegen. Bei den Schemata handelt es sich um das Hochkulturschema, das Trivialschema und – als historisch jüngstes – um das Spannungsschema (vgl. den Überblick S. 163). Sie bilden Dimensionen eines historisch gewordenen, dreidimensionalen Raums der Alltagsästhetik, in dem sich die gegenwärtigen milieuspezifischen Erlebnisorientierungen verorten lassen und sich die Handelnden durch die Auswahl der Erlebnisangebote und die Ausbildung persönlicher Stile selbst verorten (S. 157f.). Die empirisch nachweisbaren aktuellen stilistischen Kombinationen dieser drei grundlegenden alltagsästhetischen Schemata – dargestellt durch die Nähe bzw. Distanz zu den Dimensionen des Raums der Alltagsästhetik – ergeben fünf Varianten der Erlebnisorientierung, denen entsprechende Erlebnismilieus korrespondieren: das Streben nach Rang (charakteristisch für das Niveaumilieu), nach Konformität (Integrationsmilieu), nach Geborgenheit (Harmoniemilieu), nach Selbstverwirklichung (Selbstverwirklichungsmilieu) und das Streben nach Stimulation (Unterhaltungsmilieu) (S. 164f.).

In kritischer Distanz zu Schichtungs- und Klassentheorien folgt Schulze einem milieutheoretischen Ansatz, geht er doch davon aus, daß das Aufkommen der Erlebnisgesellschaft und die Umschichtung des Handlungshaushaltes der Menschen zu neuen Kollektivbildungen geführt haben, die einer fundamental veränderten Konstituierungslogik unterliegen. Die von ihm explizit ausgegrenzten fünf sozialtheoretischen Annahmen, die mit Schicht- und Klassenbegriffen verbunden sind und für den von ihm verwendeten "Milieubegriff nicht gelten" sollen, lassen die Umrisse seines Milieukonzeptes erkennen: "1. situative Verankerung sozialer Großgruppen in den Bereichen von Arbeit, Beruf, Einkommen und Besitz; 2. hierarchische Ordnung von Großgruppen; 3. Kulturkonflikt zwischen herrschender Kultur und Gegenkultur; 4. einseitige Bedingtheit von Subjektivität durch die Situation; 5. räumliche Segregation von Großgruppen [...]" (S. 175). Zwar seien diese Annahmen nicht gänzlich irrelevant, doch handelt es sich bei ihnen um einschränkende Perspektiven und zunehmend um historische Artefakte, "die von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt wurden". Die in den Schichtungs- und Klassentheorien formulierten Strukturierungskriterien und Konfliktmuster verlieren mit dem Aufkommen der Erlebnisgesellschaft an Erklärungskraft. Situative Charakteristika wie Stellung im Produktionsprozeß, Lebensstandard, lokale Zugehörigkeit und Religion haben ihre milieuindizierende und -konstituierende Bedeutung eingebüßt (S. 192-197). Statt dessen verbinden sich die aus den Erlebnisorientierungen hervorgehenden Stiltypen, das Alter und der Bildungsgrad zu jener "signifikanten und evidenten Zeichenkonfiguration, an der sich die Menschen bei der Konstitution sozialer Milieus orientieren" (S. 166, 186-192). In den sozialen Wahrnehmungsprozessen der Akteure sind diese Indizes zu verhaltensbestimmenden, selektiven Merkmalsgruppen aufgestiegen, denn sie weisen auf "erlebnisrelevante Eigenschaften" der Interagierenden hin. Dementsprechend bilden diese Zeichenklassen die dominanten Strukturierungsprinzipien der aktuellen Milieukonstellation der Bundesrepublik.

Soziale Milieus werden, mit Rücksicht auf das Konzept subjektbestimmter kollektiver Strukturbildungen, "als Personengruppen" definiert, "die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben" (S. 174). Die Kulturspezifik der sozialen Milieus der 1980er Jahre besteht darin, daß sie sich "als Erlebnisgemeinschaften" (S. 59) via "Beziehungswahl" bilden (S. 277). Das "zeichentheoretische Modell der Entstehung sozialer Milieus durch Beziehungswahl" sei das aktuelle, den veränderten Kausalitätsverhältnissen angemessene "Modell der Milieukonstitution" (S. 175), das "das Modell der Beziehungsvorgabe ablösen muß" (S. 382). Die Menschen folgen bei ihrer Milieubildung nämlich "keiner Notwendigkeit" mehr (S. 177), was sich insofern von selbst versteht, als die sozialen Milieus wesentlich als Erlebnismilieus begriffen werden. Die situativen Bedingungen sind von einschränkenden zu nahelegenden geworden, auf deren Grundlage sich die selbstbestimmten alltagsästhetischen Entscheidungsprozesse der Individuen vollziehen. Dies geschieht im wachsenden Maße mit Blick auf die Realisierung des eigenen Lebens- und Erlebnisprojektes und orientiert an den hierfür ausschlaggebenden Attributen Stiltypus, Alter und Bildung.

Die Beschreibung der aus dem Erhebungsmaterial herauspräparierten fünf Milieus bildet den interessantesten Teil der Studie (6. Kapitel). Sie vermittelt ein eindringliches Bild von den in den jeweiligen Milieus verbreiteten Konsum- und Erlebnisweisen, den Subjekttypen, den Einstellungen und kulturellen Präferenzen und der allgemeinen Lebenssituation. Die sich in den modernen Gesellschaften ausbreitende Individualisierungstendenz, die anzuzeigen das genügsame Anliegen der meisten sozialphilosophischen Abhandlungen ist, kommt offenkundig in signifikant milieuspezifischen Lebensführungsweisen und Stilmustern zum Ausdruck.

Die Diskussion des umfangreichen Materials muß hier aus Platzgründen unterbleiben; statt dessen sei dem Leser ein Ratschlag auf den Weg gegeben, der bezüglich der Autorintention ketzerisch anmuten mag: die Lektüre des Buches mit diesem Kapitel zu beginnen. Durch dieses Vorgehen kann er sich mit empirischen Einsichten gegen die besonders im 1. Kapitel vorgetragenen überzogenen Thesen und historischen Perspektivierungen wappnen, die in ihrer dekretistischen und dichotomisierenden Diktion im Widerspruch zur aspektbezogenen und relationierenden Betrachtungsweise stehen, die in der Einleitung in Aussicht gestellt wurde.

Zur Milieucharakterisierung selbst sei nur erwähnt, daß Schulze drei ältere (das Niveau-, Harmonie- und Integrationsmilieu) und zwei jüngere Milieus (das Selbstverwirklichungs- und Unterhaltungsmilieu) voneinander unterscheidet, wobei das Selbstverwirklichungs- und das Unterhaltungsmilieu als die eigentlichen Träger der modernen Erlebnisorientierung in Erscheinung treten, während in den älteren Milieus "traditionelle" Einstellungen zu Kultur und Gesellschaft weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Auch fällt auf, daß in den Milieubeschreibungen, neben den Dimensionen des Subjekts wie vorherrschende existentielle Problemdefinition, alltagskulturelle Präferenzen, Genußmuster etc., viele sozialstrukturelle und "situative" Merkmale Eingang finden: z. B. dominierende Berufsgruppen, Wohn- und Arbeitssituation u. a. So entsteht ein vielschichtiges Portrait sozialer Milieus, das, allen Abgrenzungsbemühungen zum Trotz, auffällige empirische Parallelen zur kulturellen Ethnographie Frankreichs von Pierre Bourdieu aufweist, dessen Kultur- und Klassentheorie angeblich nur noch für die Vorgeschichte der Erlebnisgesellschaft uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann.

Für die wissenssoziologisch vertiefende Interpretation der aktuellen Milieus bietet Schulze das Konstrukt einer fundamentalen Semantik auf. Sie verkörpert gleichsam ein gesellschaftsübergreifendes kategoriales Ordnungsmuster, eine Art kollektive Semantik aller existierenden Semantiken eines Gesellschaftstyps, an der sich die Interagierenden bei der Realisierung ihrer Lebensprojekte ausrichten. Zwei fundamentale Semantiken sollen sich historisch unterscheiden lassen: als die fundamentale Semantik älteren Typs die ökonomische – resp. außenorientierte – Semantik, die der Ressourcenlogik einer "Unterscheidung zwischen mehr und weniger" folgt und, als fundamentale Semantik neueren Typs, die psychophysische resp. innenorientierte Semantik, die auf "kognitiv-körperliche Erfahrungskomplexe" und deren Kodierung zielt (S. 251ff.).

Die für die Erlebnisgesellschaft Bundesrepublik charakteristische psychophysische Semantik "besteht in einer elementaren Klassifikation von Denk- und Handlungsstilen" (S. 344), die "einen zweidimensionalen Raum gegenwärtiger Typen des Subjekts" erschließen soll (S. 365). Auf der Ebene des Denkens der Menschen ist die Dimension der kognitiven Differenziertheit angesiedelt; deren kategoriale Pole bilden Einfachheit und Komplexität. Auf der Ebene des Handelns der Menschen haben wir es mit der Dimension der Reguliertheit zu tun; deren Pole bilden Ordnung und Spontaneität (S. 338ff., Übersicht S. 255).

Zweifellos lassen sich in diesem wissenssoziologischen Konstrukt eines bipolar strukturierten fundamentalsemantischen Raums die existierenden Milieus nach den in ihnen dominierenden Denk- und Handlungsstilen verorten (S. 694f., 585f., 721). Doch ist mir nicht so recht einsichtig, worin die behauptete Kultur- und Subjektspezifik dieses Schemas bestehen soll (S. 74). Die Differenzierung zwischen einer von ökonomischen Imperativen bestimmten Semantik und einer psychophysisch kodierten Semantik wird in ihrer simplifizierenden Historisierung und dichotomen Kontrastierung weder dem Stellenwert der ökonomischen Semantik in den modernen Gesellschaften noch der kulturellen Relevanz der psychophysischen Semantiken in den zurückliegenden Gesellschaftsepochen gerecht. Noch weniger haltbar ist aber die Behauptung, dieses abstrakte kategoriale Schema sei nicht nur für die Wissenschaft ein "übergreifender Deutungsrahmen des Alltagslebens", sondern würde auch von den Individuen selbst bei ihren täglichen Entscheidungen im Alltag als sinn- und orientierungsgebendes Muster operationalisiert (S. 356). Daß sich ausgerechnet hier die wissenssoziologische Interpretation "das Abstraktionsprinzip des Alltagsverstandes zu eigen" gemacht haben soll, erscheint mir als szientistische Illusion (S. 355).

Zur wissenssoziologischen Crux der Studie kommt die genetische hinzu. Bei der Suche nach den Entstehungsgründen der fundamentalen Semantik und der sich in Homologie zu ihr entfaltenden sozialen Gebilde zieht sich Schulze auf eine quasianthropologische Argumentationsfigur zurück: aus dem schlichten lebensnotwendigen "Bedürfnis nach Orientierung und Konsistenz heraus entwickeln die Menschen eine intersubjektive fundamentale Semantik" (S. 337). Mehr noch, alle Kollektivbildungen, angefangen von den Stiltypen bis zu den sozialen Milieus, entspringen dem Bedürfnis "nach Ordnung und Vereinfachung", der "Suche nach Eindeutigkeit, nach Anhaltspunkten, nach kognitiver Sicherheit in einer zunehmend unübersichtlichen Situation" (S. 464). Den ursprünglichen evolutionsgeschichtlichen Zweck der Orientierung in einer lebensbedrohlichen Umwelt transponiert Schulze also einfach auf die heutige Situation eines gesellschaftlich produzierten Orientierungsdruckes in einer Überflußgesellschaft. Um dem auch hier "ständig drohenden Chaos" zu entgehen, setzen die Menschen diesem "vereinfachende Strukturvorstellungen entgegen". Den veränderten Umständen in der Erlebnisgesellschaft entsprechend – schließlich stehen wir ja nicht mehr im Überlebenskampf mit Raubtieren, sondern gegebenenfalls vor der Wahl eines Plüschtigers – handelt es sich nun um Szenen, alltagsästhetische Schemata und soziale Milieus (S. 464).

Diese verkürzte Antwort auf eine der Grundfragen der Soziologie, die eigentlich nur die "Notwendigkeit gesellschaftlicher Ordnung überhaupt" begründet (vgl. Berger/Luckmann 1980: 56) und nicht die spezifische Konstellation und Konstitution gegenwärtiger Kollektivbildungen, hat Konsequenzen für die Theorie der Milieusegmentierung. Da die Ausdifferenzierung der Milieus vornehmlich als Polarisierung von Existenzformen entlang der Dimensionen der fundamentalen Semantik aufgefaßt wird, erscheinen die kollektiven Konstruktionen als im Prinzip gleichberechtigt und heterogen. Sie sind variable "Strategien zur Lösung des Orientierungsproblems" (S. 341). Aus kognitiv-orientierungsgebender Sicht erweist sich die Ausdifferenzierung für alle von Nutzen: jeder gewinnt in den Annäherungs- und Abgrenzungsprozessen eine milieuspezifische Identität, die bei den permanenten alltagsästhetischen Entscheidungsprozessen als Kompaß dient.

Auch das Verhältnis der Milieus untereinander wird ein anderes. Mit dem Verblassen der ökonomischen Semantik diffundieren die sozialen Konflikte zu Intoleranzen in Fragen der im Bedeutungsfeld der psychophysischen Semantik gewählten Denk- und Handlungsstile. Die kollektiven Auseinandersetzungen um grundlegende Ressourcen treten hinter einer semantischen Konkurrenz unterschiedlicher Existenzformen und Lebenskonzepte zurück. Die Klassenkämpfe zwischen Großgruppen weichen einer von Distanz, gegenseitigem Nichtverstehen oder aufgeklärter Ignoranz gekennzeichneten Koexistenz der Milieus (S. 364ff., 408). Diese ist keineswegs immer eine friedliche, doch wurzeln die gegenwärtigen Konfliktpotentiale nicht mehr in einer als evident und signifikant erfahrenen Differenz der sozialen Lagen, sondern in unterschiedlichen Denk- und Handlungsstilen. Wo handfeste Gegensätze dennoch auftauchen, wie zum Beispiel während des Kulturkonflikts in den 1960er Jahren, handelt es sich weitgehend um Mißverständnisse oder um anachronistische Fixierungen an überlebten Teilungsprinzipien aus einer Zeit, in der die ökonomische Semantik die interaktiven Prozesse bestimmte. Im übrigen herrscht zwischen den Milieus "ein Klima von Indifferenz oder achselzuckender Verächtlichkeit, nicht geregelt und hierarchisiert durch eine umfassende Semantik des Oben und Unten" (S. 405).

Die "Entvertikalisierung des Verhältnisses sozialer Großgruppen" durch die allgemeine Hebung des Wohlstandes hat allerdings zu keiner völligen Nivellierung der Milieus geführt. Für die Gegenwart diagnostiziert Schulze das Fortbestehen einer gespaltenen Vertikalität sozialer Lagen. Das Niveaumilieu steht (weiterhin) an der Spitze der Pyramide, gefolgt von den jeweils auf einer Ebene angesiedelten Selbstverwirklichungs- und Integrationsmilieu und Harmonie- und Unterhaltungsmilieu (S. 400). Nicht nur die Bildung, sondern auch situative Charakteristika wie "berufliche Stellung, Arbeitsbedingungen, Wohnsituation, Einkommen und Eigentum sind klar milieuspezifisch verteilt", just also gerade ein beträchtlicher Teil jener Merkmale der sozialen Lage, deren Bedeutungsverlust für die Bildung sozialer Milieus der Gegenwart wiederholt postuliert wurde.

Das Wiederaufleben der Verteilungskämpfe im vereinten Deutschland läßt Schulzes Befunde heute suspekt erscheinen; falsch wäre es jedoch, die Kritik nur am Gang der Ereignisse festzumachen. Schließlich war sich der Autor des Risikos bewußt, daß gesellschaftliche Entwicklungen die Forschungsergebnisse "unterderhand von Gegenwartsdiagnose in neueste Sozialgeschichtsschreibung" verwandeln könnten (S. 29). Das ökonomische Fundament der Erlebnisgesellschaft hat sich jedenfalls wieder nachdrücklich in Erinnerung gebracht. Die Indizien häufen sich, daß die gegenwärtigen Krisenprozesse keineswegs nur konjunkturelle Turbulenzen darstellen, die eindeutig den Erblasten der DDR zuzurechnen sind. Eine ganze Reihe von neuen und alten Problemen des "normalen Kapitalismus" drängen europaweit in den Vordergrund, so daß man um die Zukunft der Erlebnisgesellschaft fürchten muß.

Literatur

Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt am Main, New York: Campus 1992, Studienausgabe 1993.

 

Anhang

Erlebnismilieus nach Gerhard Schulze "Die Erlebnisgesellschaft"

Moderne Basismotivation: Erlebnisorientierung

Soziale Milieus und milieuspezifische Varianten der Erlebnisorientierung

Soziale Milieus

Niveaumilieu

Harmoniemilieu

Integrations-milieu

Selbstverwirk-lichungsmilieu

Unterhaltungs-milieu

Soziale Lage

über 40

gebildet

gehobener beruflicher Status

über 40

geringe Bildung

niedriger beruf-licher Status

hoher Anteil an Rentnern und Hausfrauen

über 40

mittlere Bildung

mittlerer beruf-licher Status

hoher Anteil an Hausfrauen

unter 40

mittlere & höhere Bildung
mittlerer beruf-licher Status

hoher Anteil von Personen in Ausbildung

unter 40

geringe Bildung

niedriger beruf-licher Status

Alltagsästhetische Schemata / Stil

 

 

 

 

 

Hochkulturschema

++

−−

+

+

−−

Trivialschema

−−

++

+

−−

Spannungsschema

−−

−−

+

++

Bedeutungsebenen

 

 

 

 

 

Genußmuster

Kontemplation

Gemütlichkeit

Gemütlichkeit & Kontemplation

Action & Kontemplation

Action

Art der Distinktion

antibarbarisch

antiexzentrisch

antiexzentrisch & antibarbarisch

antikonventionell & antibarbarisch

antikonventionell

Lebensphilosophie

Perfektion

Harmonie

Harmonie & Perfektion

Narzißmus & Perfektion

Narzißmus

Existentielle Problemdefinition

Streben nach Rang

Streben nach Geborgenheit

Streben nach Konformität

Streben nach Selbstverwirk-lichung

Streben nach Stimulation

Erlebnisparadigma

Nobelpreisver-leihung

Hochzeit

nette Runde

Künstler

Miami Beach

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