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Henri Band

Keine schönere Not in dieser Zeit

Gemeinwohl und Gemeinsinn in Zeiten des Neoliberalismus

Rezension leicht verändert erschienen in: Der Tagesspiegel, 24. März 2002, S. S 4.

© Henri Band

Totgesagte leben länger. Das gilt auch für Begriffe. In Zeiten von Neoliberalismus und Globalisierung von Gemeinwohl und Gemeinsinn zu reden, klingt ein wenig altmodisch. Die Ökonomisierung des Lebens erfüllt jedoch viele Menschen mit wachsender Sorge. Für sie sind die beiden Begriffe ein Geschenk. Denn die Sorge um das Gemeinwohl ist eine der schönsten Sorgen, die man sich machen kann.

Das derzeitige Wiederaufleben der Gemeinwohldebatte weckt den Verdacht, sie sei nur ein beredter Ausdruck des großflächigen Verfalls real praktizierten Gemeinsinns in der individualisierten Leistungs- und Konsumgesellschaft. Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert D. Putnam hat Mitte der neunziger Jahre in einer vielbeachteten empirischen Erhebung auf den dramatischen Schwund bürgerschaftlichen Engagements in den Vereinigten Staaten hingewiesen. Korruption, Amtsmißbrauch, Abbau des Sozialstaates, Selbstbereicherungsmentalität der Eliten, sinkende Steuerzahlungsmoral und mangelndes Engagement der Bürger für ihre kommunalen und gesellschaftlichen Angelegenheiten sind auch hierzulande die verführerischen Ad-hoc-Belege für diese Diagnose. Sind wir also auf dem Weg zu einer "couch potato democracy"? Soziale Desintegrationsszenarien haben Konjunktur. Doch sie argumentieren zumeist vor der Kontrastfolie idealisierter vergangener und möglicher zukünftiger Gesellschaftsbilder. Und der Vergleich mit solchen Idealzuständen läßt die Wirklichkeit bekanntlich immer alt aussehen.

Wissenschaftler halten es eher mit der Wirklichkeit. So auch die im Oktober 1998 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufene interdisziplinäre Arbeitsgruppe "Gemeinwohl und Gemeinsinn". Anliegen ihrer Mitarbeiter ist es, die beiden Begriffe in ihrer historischen und aktuellen Bedeutung einer gründlichen Betrachtung zu unterziehen. Inzwischen liegen zwei Sammelbände der von Herfried Münkler, Harald Bluhm und Karsten Fischer herausgegebenen Forschungsberichte der Arbeitsgruppe vor: ein Band zur historischen Semantik dieser politischen Leitbegriffe und ein Band zu sozialwissenschaftlichen Aspekten aktueller Gemeinwohlrhetoriken. Zwei weitere Bände zu juristischen und zu normativen bzw. zeitdiagnostischen Fragen werden folgen.

Die Herausgeber und Autoren gehen von der Überzeugung aus, daß es "in pluralistischen Demokratien keine substantialistische Gemeinwohldefinition mehr geben kann, keine privilegierten Institutionen, die festlegen, was als Gemeinwohl zu gelten hat und was nicht". Das hat natürlich viele Akteure und Institutionen bis heute nicht davon abgehalten, mit solchen Definitionen zu operieren und mit solchen Geltungsansprüchen aufzutreten. Gemeinwohl ist ein hochgradig wertbesetzter, auslegungsbedürftiger und daher auch heftig umstrittener Begriff.

Die historischen Beiträge des ersten Bandes belegen, daß es spätestens seit der Antike eine Vielzahl konkurrierender Gemeinwohlvorstellungen gab, die auf die Interessenlage der sie vertretenden Gruppen und Schichten zugeschnitten waren. Der Rekurs auf den Gemeinwohltopos konnte je nach historisch-politischer Konstellation sowohl der Herrschaftsbegrenzung als auch der Herrschaftserweiterung, der Überwindung oder der Verschleierung und Legitimierung von Partikularinteressen, der Selbstbehauptung der Bürger oder ihrer Passivierung und Disziplinierung dienen. Der Begriff wies im Mittelalter zunächst einen engen Konnex zur Kommune auf, um dann im Zuge der Herausbildung des neuzeitlichen Territorialstaates und später des modernen National- und Sozialstaates gleichsam eine Verstaatlichung zu erfahren (Peter Blickle, Thomas Simon, Wolf-Hagen Krauth, Matthias Bohlender).

Am strategischen und instrumentellen Gebrauch von Gemeinwohlfloskeln hat sich, wie die sozialwissenschaftlichen Beiträge des zweiten Bandes zeigen, auch in den modernen Massendemokratien nichts geändert. Man kann das für beklagenswert und moralisch verwerflich halten. Letztlich spiegelt sich darin aber auch die Unentbehrlichkeit der politischen Leitbegriffe Gemeinwohl und Gemeinsinn wider, wenn es um die öffentliche Begründung und Durchsetzung von Geltungsansprüchen geht. Nackte Interessenvertretung gilt als anstößig und kontraproduktiv. Selbst Deregulierungsapostel sind um Gemeinwohlargumente nicht verlegen und schwingen sich zu Verteidigern der Souveränitätsrechte von Konsumenten auf.

Insbesondere Politiker und Parteien sind geradezu zur Gemeinwohlrhetorik verdammt. Zum einen ist das natürlich dem Funktionsverständnis von Politik geschuldet, Interessen zu bündeln, zu vermitteln und in konsensfähige Entscheidungen zu überführen. Zum anderen sind Politiker Menschen, die gewählt und möglichst wieder gewählt werden wollen. Das nötigt sie zwangsläufig dazu, in der Öffentlichkeit mehr Gemeinwohlversprechen abzulegen, als sie jemals halten können. Gleichzeitig dient der Gemeinwohltopos dazu, kleinkarierte und überzogene Ansprüche abzuweisen und so eine desaströse Überlastung des politischen Systems zu verhindern (Kai-Uwe Hellmann). Der tatsächliche Gemeinwohloutput erscheint gemessen am rhetorischen Aufwand mager: "Demokratische Entscheidungen in fragmentierten Systemen des semisouveränen Staates, in dem organisierte Interessen, Parteien, Gebietseinheiten, Bürokratien und parastaatliche Einrichtungen einander kontrollieren und lähmen, spaltet die Materien auf und splittert das Gemeinwohl in lauter kleine Gemeinwöhlchen auf, die als Verträglichkeitsannahmen und Risikovermeidungsmaximen bescheiden geworden sind." (Klaus von Beyme)

Bei der journalistischen Elite der Kommentatoren (Friedhelm Neidhardt) und bei Organisationen wie zum Beispiel den Ärzteverbänden (Michael Meuser und Ronald Hitzler) spielen Gemeinwohlargumente ebenfalls eine wichtige Rolle. Und Unternehmen haben den Gemeinwohltopos als Mittel zur Optimierung des Business-Designs und sogar als Verkaufsargument entdeckt, seit es den moralischen Konsumenten gibt (Franz Liebl).

Ist also die öffentliche Gemeinwohlrhetorik zu einem Akzeptanzbeschaffungsvehikel verkommen, zu einer werteindifferenten Standort- und Verteilungsdebatte? Die meisten Autoren unterstützen die These Herfried Münklers, daß es eine listige "Selbstbindungswirkung der Gemeinwohlsemantik" gibt. Alle, die das Gemeinwohl im Munde führen, müssen ihre Worte durch Taten belegen können, seien sie auch noch so bescheiden. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sehr diese Taten ins Gewicht fallen angesichts der Macht des Faktischen und der faktischen Macht transnationaler Großunternehmen und Finanzmärkte.

Die entscheidende und am schwierigsten zu beantwortende Frage bleibt aber: Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? (Claus Offe) Bei der Diskussion um die Einführung eines Niedriglohnsektors in Deutschland kommt man schon ins Grübeln, wessen Wohl hier eigentlich gefördert werden soll. Führt eine Entstaatlichung des Gemeinwohls zwangsläufig dazu, daß es geschmälert wird, oder weckt sie den Gemeinsinn der Bürger erst wieder? Gefährdet eine Verknappung der sozial-moralischen Ressource Gemeinsinn langfristig die Grundlagen der westlichen Demokratien? Diese und viele andere Fragen lassen sich nur empirisch beantworten. eGovernment und eDemocracy via Internet scheinen zumindest auf kommunalpolitischer Ebene neue Möglichkeiten netzwerkförmiger Bürgerpartizipation am Politik- und nicht nur am Wahlprozeß zu eröffnen, die die Gemeinwohlorientierung der Politik und das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürger nachhaltig stärken könnten. (Birger P. Priddat)

Bei der Bestimmung von Kriterien, was in welcher Hinsicht als Gemeinwohl bzw. gemeinwohldienlich gelten kann, sind auch die Sozialwissenschaften gefordert. Das kann in Form von Problemdiagnosen auf Teilsystemebene geschehen, wie dies Renate Mayntz vorschlägt, aber auch durch die Entwicklung eines empirischen Indikatorensatzes für die Messung des Gemeinwohls einer Gesellschaft und des Gemeinsinns ihrer Bürger. Ein solches Indikatorensystem wird den politischen Streit zwischen verschiedenen Gemeinwohlvorstellungen nicht aus der Welt schaffen. Dazu sind die Wertüberzeugungen zu heterogen und die externen Effekte von Entscheidungen zu unberechenbar und widersprüchlich. Es könnte aber die Diskussion um Gemeinwohl und Gemeinsinn vor manchem interessegeleiteten Unsinn schützen.

Literatur

Münkler, Herfried/Bluhm, Harald (Hrsg.) (2001): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe. Berlin: Akademie Verlag.

Münkler, Herfried/Fischer, Karsten (Hrsg.) (2002): Gemeinwohl und Gemeinsinn. Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung. Berlin: Akademie Verlag.


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