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Henri Band

Moralischer Konsum

Rezension des Buches von Birger P. Priddat: Moralischer Konsum. 13 Lektionen über die Käuflichkeit. Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs. 10. Jg. (1999) Heft 3, S. 126-128. Leicht verändert und erweitert.

© Henri Band

Die Beziehung von Moral und Ökonomie war und ist nicht von einer prästabilierten Harmonie geprägt. Die gegenwärtige Globalisierungsdebatte liefert nur eine neue Arena für einen alten Streit. Die Ökonomen sahen sich mit aller Regelmäßigkeit dem Verdacht ausgesetzt, die negativen moralischen Implikationen ökonomischer Prozesse zu ignorieren oder der Moral im Namen eines reibungslosen, d.h. modellgerechten Ablaufs ökonomischer Produktions- und Marktprozesse den Garaus machen zu wollen. Sie selbst konterten diesen Vorwurf mit dem Hinweis auf den ökonomischen Analphabetismus und die Wirklichkeitsfremdheit der Hüter der Moral. Nicht wenige haben sich gegen die Unterstellung eines konstitutiven Amoralismus ihres Denkens produktiv zur Wehr gesetzt und das Verhältnis von Moral und Ökonomie aus ökonomischer Perspektive reflektiert. Auf diese Weise ist eine traditionsreiche Literaturgattung entstanden, in die auch das Buch "Moralischer Konsum" von Birger P. Priddat einzureihen ist. Es stellt nicht die erste Äußerung des Autors zu diesem Thema dar.

Priddat geht das Verhältnis von Moral und Ökonomie durch kurzweilige, beispielbezogen argumentierende Lektionen vor allem über diverse Konsumhandlungen an. Um die Dichotomisierung von Moral und Ökonomie zu unterlaufen, folgt er der eingängigen Doppelstrategie, sowohl die ökonomischen Implikationen scheinbar rein moralischer Handlungsweisen als auch die moralischen Implikationen von scheinbar rein ökonomischen Handlungen aufzuweisen. Was sich auf diese Weise ergibt, ist eine am praktischen Alltagskonsumhandeln orientierte Kritik der reinen Moral und der reinen ökonomischen Lehre namentlich in Gestalt der Rational-Choice-Theorie.

Am interessantesten und wichtigsten sind zweifellos die Lektionen, die sich um das titelgebende Thema "Moralischer Konsum" ranken. In den ersten Lektionen des Buches bietet Priddat zunächst eine mit persönlichen Erfahrungen angereicherte Theorie und Kritik der von ihm als typisch deutsch charakterisierten "Gebrauchswertmoral", die jedoch zugunsten einer Verbrauchsmoral in Auflösung begriffen sei. Höhepunkt seiner Attacke gegen die traditionalen Konsumwerte der Dauerhaftigkeit und des Selbermachens bildet die Polemik gegen den moralisch fehlgeleiteten Einfamilienhausbau und den deutschen Häuslebauer, dem es in unermüdlicher, ressourcen- und zeitverschlingender Arbeit gelingt, sein Haus in ein ästhetisches Gruselkabinett und damit in ein unveräußerbares, unökonomisches Gut zu verwandeln. Sich im Zeitalter der Mobilität und Innovativität einen solchen Hang zur selbstgenutzten und selbstverhunzten Immobilie zu leisten, ist für Priddat ein blanker Konsumanachronismus. Hier scheint der Autor sehr zur Freude aller zur Miete wohnenden Leser ein persönliches Trauma abzuarbeiten.

Unter der Überschrift "Die Moral und die Märkte" widmet sich Priddat in mehreren Lektionen dem moralischen, d.h. dem moralisch motivierten oder imprägnierten Konsum bzw. Nichtkonsum von Waren und Dienstleistungen. "Moralischer Konsum" im engeren Sinne meint zunächst: "Eine Person verzichtet auf ihre Präferenz, das heißt auf 'ihr Liebstes', weil sie – in einem etwas unklaren, aber moralisch aufgefaßten Sinn – nicht mitschuldig werden will an menschenrechtsverletzenden, unökologischen und dergleichen Handlungen der Produzenten ihres eigentlich präferierten Konsumgutes." (S. 66) Paradebeispiel dieser Konsumform ist natürlich der erfolgreiche Konsumboykott des Shell-Konzerns, als dieser eine ausgediente Bohrplattform im Meer versenken wollte. Nach Priddat haben wir es hier mit dem "Phänomen einer kommunikationsgesteuerten, aber marktabgewickelten neuen politischen Ökonomie" zu tun. Bürger versuchen als Konsumenten Anliegen durchzusetzen, die sich auf politisch-institutionellem Wege nur schwer oder mit großer Zeitverzögerung durchsetzen lassen. Sie agieren "wie politische Bürger, nur daß sie anstelle der Wahl von Parteien den Boykott von Produkten betreiben." (S. 67f.) Das erinnert sehr an Daniel Millers Ideal einer "consumer citizenship". In dem moralisch motivierten strategischen Konsumverhalten, das sich nicht nur als Produktboykott, sondern z.B. auch als bewußter Kauf von Produkten äußern kann, die den Produzenten eine gerechte Entlohnung sichern (Stichwort: Fairtrade), kommt ein moderner, marktförmiger Moralmodus zum Ausdruck. Das Besondere und Attraktive dieses medienkommunikativ gesteuerten und von modischen Konjunkturen geprägten moralischen Engagements via Konsum besteht u.a. darin, daß es keine hohen persönlichen Kosten verursacht (im Falle von Shell mußte man nur die Tankstelle wechseln) und den Konsumenten die moralische Selbstbefriedigung verschafft, etwas gegen das Unrecht in der Welt getan zu haben. Moralischer Konsum ist eine marktgesellschaftliche Form des zivilen Ungehorsams bzw. der Solidaritätsbekundung, die ohne bindende und verpflichtende Normen auskommt.

Die Konsumwelt bringt jedoch nicht nur in diesen demonstrativen Kaufentscheidungen moralische Qualitäten hervor. Auch die Werbung ist ein "Moralgenerator ersten Ranges", und über den alltäglichen Konsum von Waren und Dienstleistungen versorgen sich die Menschen mit Anerkennung und einer Identität. Alle diese Erscheinungen belegen zum einen: "moral matters" auch auf Märkten. Zum anderen sind sie ein Indiz für die "'Vermarktung' der Moral", die sich gegenwärtig vollzieht. Diese Vermarktung stellt für Priddat "keine Verfallsform des Moralischen, sondern eine ihrer modernen Vollzugsformen" dar. (S. 86) Moralischer Konsum erweist sich unter dieser Perspektive als eine marktmäßige Form der Bekundung von Protest bzw. Solidarität und als eine marktmäßige Form der Befriedigung des individuellen Anerkennungsbedürfnisses durch den Anschluß an eine Konsumstilgemeinschaft. Der Vorteil dieser modernen, attraktiven und opportunistischen Moral besteht darin, "unaufdringlich Angebote an Handlungsmöglichkeiten zu erzeugen, die weder als 'barmherzige' Nötigung noch als starre, gesellschaftlich sanktionierte Handlungsnormen erscheinen." (S. 93) Spätestens hier wird deutlich, daß Priddat kein Fürsprecher einer ideell überhöhten Prinzipien- und Pflichtmoral ist. Er argumentiert nicht nur gegen die auf eine Gebrauchswertmoral gegründete Dauerhaftigkeit der Beziehung zwischen den Konsumenten und den von ihnen konsumierten Gütern, sondern ebenso gegen die auf Pflichten gegründete Beziehung zwischen den Konsumenten untereinander bzw. zwischen den Konsumenten und Produzenten. Der apriorischen Verbindlichkeit der traditionalen Moral stellt er eine selbstregulierende Moralökonomie gegenüber, die ihre handlungsbindenden Effekte aposteriori über das Markthandeln der Konsumenten und Produzenten erzielt. Damit erweist sich seine Konzeption als eine auf die moralgenerierende Leistung von Kaufhandlungen zurückgestutzte Nachauflage der Moralphilosophie Adam Smiths. Die "Marktform der Moral", die ohne Opfer und Pflicht auskommt, soll die traditionalen Formen der Gruppenmoral nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die Sympathie des Autors gilt aber erkennbar der moralischen Marktwirtschaft, weil sie weniger restriktiv und letztlich auch effektiver sei. Die moralmarktwirtschaftliche Bearbeitung sozialer Probleme darf man sich dann wohl durch das Beispiel des Verkaufs von Obdachlosenzeitungen durch Obdachlose veranschaulichen: Es besteht keine Pflicht zu direkten Hilfshandlungen, sondern man leistet freiwillig seinen kleinen Beitrag durch den Kauf einer Zeitung, der die eigenen Handlungsmöglichkeiten gar nicht und die Konsummöglichkeiten nur in einem verschwindend geringen Maße einschränkt. Gleichzeitig kann der Zeitungskaufende moralisch konsumieren, sein Gewissen erleichtern und sich das Gefühl verschaffen, etwas Gutes getan zu haben. Die Obdachlosen wiederum können auf dem moralischen Markt der Nächstenliebe ihre Handlungsfähigkeit wiedergewinnen, die ihnen soziale Anerkennung und ein materielles Auskommen sichert.

Es wäre allzu billig, den Überlegungen des Autors zu einer marktförmigen Moral mit moralischer Entrüstung über deren angeblichen Zynismus zu begegnen. Zumindest darin hat Priddat recht, daß es anachronistisch wäre, sich eine Kompensation der negativen Effekte der Marktökonomie nur von einer restriktiven Pflichtmoral auf der Basis materialer Gleichheits- und Gerechtigkeitsnormen zu erhoffen. Die modernen Märkte und das moderne Konsumhandeln implizieren bereits Moralen, die nicht schlechthin unmoralisch sind und an die in vielfältiger, auch in sozialreformerisch vielfältiger Weise angeknüpft werden kann. Letztlich muß sich aber die soziale Leistungsfähigkeit eines solchen Moraldesigns in der Realität beweisen, und dazu finden sich in Priddats Essays kaum empirisch gesicherte Aussagen.

Die Lektionen zum Thema "Arbeit, Moral und Arbeitsmoral" bieten weniger Stoff zum Nachdenken, sondern eher Ratschläge und m.E. zu kurz greifende Antworten auf Krisensymptome der Arbeitswelt. Anders die Lektionen des Abschnittes "Angewandte Ökonomie", in denen Priddat u.a. seine Kritik an der Rational-Choice-Theorie formuliert. In spielerischen Gedankenübungen werden Konsumphänomene wie das Schlangestehen, das Trinkgeldgeben oder der profane Eiskauf an ihre ökonomischen Erklärungsgrenzen gebracht, bis nur noch die Einbeziehung von Moral bzw. Kommunikation der Argumentation weiterhelfen kann. Die Frage, warum wir bei unseren Kaufhandlungen reden, führt schließlich zur Kritik der Annahme der Rational-Choice-Theorie, daß die Kommunikation nur der Realisierung der Transaktion bzw. der Durchführung der bereits getroffenen Entscheidung dient. In Wirklichkeit gibt es aber bei allen Transaktionen auch einen Bedarf, die sogenannten objektiven Informationen subjektiv bestätigt zu finden, um Mißverständnisse auszuschließen, und dazu bedarf es Kommunikation, nicht nur Information. Für diesen Sachverhalt gibt es sicherlich aussagekräftigere Beispiele als den Eiskauf: Namentlich das Dienstleistungsgespräch beim Frisör überzeugt mich immer wieder aufs neue davon, wie schwer die kommunikative Dreieinigkeit von Information, Mitteilung und Verstehen im Konsumalltag mitunter umzusetzen ist. Haarfrisuren scheinen ein recht auffälliges Epiphänomen des Problems der doppelten Kontingenz zu sein. Rational-Choice-Akte sind also immer auch kommunikativ vermittelt, und die Unterscheidung zwischen Wahlakt und Entscheidungsrealisation ist nur eine relative. Um so mehr gilt das für Kaufsituationen, in denen die Entscheidung noch nicht definitiv feststeht, sondern auf der Basis interpretationsoffener Präferenzen und mit Blick auf vorhandene Alternativen zwischen Käufer und Verkäufer verhandelt wird. Zu recht insistiert Priddat deshalb darauf, daß "die Rational choice-Theorie kontextsensibel argumentieren muß, wenn sie das effektive Entscheidungsverhalten darlegen will". (S. 193) Kommunikation als konstitutiv für alle ökonomischen Transaktionen anzusetzen, dazu ringt sich der Autor allerdings in diesem Buch nicht durch.[1] Im Sinne einer möglichst erschöpfenden Erklärung des effektiven Entscheidungsverhaltens von Akteuren wäre von einer Rational-Choice- zu einer Communicative-Choice-Theorie überzugehen.[2] Soziologisch gesehen ist jede Wahl kommunikativ konstituiert durch das Zusammenspiel zwischen den kommunikativ erzeugten Präferenzen und der situationsgebundenen Kommunikation der konkreten Entscheidungsfindung. Eine kommunikationsabstinente Entscheidung gibt es nicht. Zudem würde es ein solcher Ansatz erlauben, die Konstruktion von Rationalität(en) im Handeln bzw. die Zuschreibung von Rationalität auf bestimmte Handlungen und Entscheidungen in die Untersuchung einzubeziehen, statt diese Rationalität unhinterfragt vorauszusetzen. Es ist und bleibt aber eine forschungsökonomische Ermessensfrage, ob man die komplexen Abhängigkeiten und kreativen Kontexte von Entscheidungen zum Thema macht. Um der Logik von Shampoo-Kaufentscheidungen auf die Spur zu kommen, muß man nicht gleich bis auf den Grund der menschlichen Seele leuchten. Im übrigen beruht die ungebrochene Popularität der Rational-Choice-Theorie bei ökonomischen und politischen Entscheidern auf den theorieökonomischen Modellierungsmöglichkeiten von Entscheidungsakten, die sie bietet, und der Bereitstellung von handfesten und legitimen Gründen für Entscheidungen. Wo Entscheidungsfreudigkeit als solche zum Zeichen von Führungsqualität wird, muß auch die Beschaffung von Gründen für Entscheidungen flexibilisiert und gegebenenfalls outgesourct werden (an Ratingagenturen, Unternehmensberater, Accessment Center usw.). Gute Gründe für Entscheidungen sind knapp und nicht immer gleich marktgängig. Und sie dürfen heute nicht mehr offen diskriminierend sein, müssen also als menschelnde Sachargumentationen kommuniziert werden. In ihrer methodologischen Machtblindheit schmeichelt die Rational-Choice-Theorie zudem dem individuellen Bedürfnis nach Entscheidungsautonomie und der gesellschaftlichen Norm nach Wahrung der demokratischen Form nichtoktroyierter Entscheidungen. Insofern steht zu vermuten, daß allzu kommunikationssensibel und wirklichkeitsnah argumentierende soziologische Theorieangebote zu diesem Thema auf dem Markt der praktischen Entscheidungshilfen ohnehin immer das Nachsehen haben werden. Aber das ist letztlich auch nur ein Effekt der moralischen Märkte, die Priddat in seinem Buch beschrieben hat.

Literatur

Priddat, Birger P. (1998): Moralischer Konsum. 13 Lektionen über die Käuflichkeit. Stuttgart, Leipzig: S. Hirzel Verlag.

Weber, Heike (2008): Das Versprechen mobiler Freiheit. Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy. Bielefeld: transcript Verlag.

[1] Anmerkung 2016: Natürlich wäre auch das eine anfechtbare, weil übergeneralisierte Behauptung, denn inzwischen gibt es technische Transaktionssysteme, die ohne (menschliche) Kommunikation auskommen, und technische Systeme, die miteinander kommunizieren können. Die sozialisatorische Wirkung des Siegeszuges der Selbstbedienungs­geschäfte hat Konsumenten hervorgebracht, denen es in der Kassenzone gelingt, bei ihrer ökonomischen Transaktion (fast) nicht zu kommunizieren, was dann als Kommunikation von Unfreundlichkeit verstanden oder missverstanden werden kann. Darunter fallen z.B. die aussterbenden Exoten der "Passendzahler", die schon vorher genau wissen, wieviel sie für ihren Einkauf zu entrichten haben, und von der kassierenden Person nur in Erfahrung bringen wollen, ob ihr Kassencomputer ebenfalls rechnen kann, oder die "Kartenzahler", die dem Prinzip der autistischen Selbstbedienung auch noch beim Bezahlen frönen wollen und nun in den Shopping-Apps ihrer Smartphones das grenzenlose Medium kommunikations­entlasteter Konsumseligkeit genießen – ein fragwürdiges Glück, das nicht lange währte, weil sich inzwischen die Apps selbst ständig mit ungebetenen Botschaften an die Nutzer wenden, also Sozialität simulieren. Das immer diskreter und schneller zirkulierende Geld hat sich nicht zuletzt deshalb als praktisches symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium erwiesen, weil es die Kommunikation zwischen den am Tauschakt beteiligten psychischen Systemen auf ein Minimum reduzieren kann, was diejenigen, die weit hinten in einer Schlange stehen, durchaus zu schätzen wissen. Das wiederum war Befürwortern kommunikationsfreudiger und persönlich eingefärbter sozialer Beziehungen nicht geheuer, weil dadurch, wie Marx und Engels im "Kommunistischen Manifest" monierten, das Band zwischen Mensch und Mensch auf die gefühllose bare Zahlung reduziert werde. Freilich ist es nicht jedem zu jeder Zeit gegeben, bei ökonomischen Transaktionen immer die passenden Gefühle seinem jeweiligen Tauschpartner gegenüber zu entwickeln, weshalb sich der allgemeine Gefühls- und Umgangscode der geschäftsmäßigen Freundlichkeit durchgesetzt hat, der durch Sonderbegabungen und Launigkeiten der Beteiligten aufgewertet kann. Das scheint den Marketing-Gurus allerdings inzwischen als zu wenig des Guten, weshalb sie im Gleichklang mit der aktuellen Mode für authentisch anmutende Gefühle und Atmosphären den Produkten und Verkaufsorten die Sprache der Liebe und der Leidenschaft applizieren, wenngleich den am Point of Sale Tätigen überaus deutlich anzusehen ist, dass sie weder dem einen noch dem anderen verfallen sind – was sie im Übrigen sehr sympathisch macht. Befeuert durch die Digitalisierung geht der Trend aber weiter in Richtung einer Ausweitung technischer Transaktionssysteme, die menschliche Kommunikationen marginalisieren, weil diese zu langsam und zu störanfällig sind und auf nichtökonomische Abwege geraten können. Die Verwandlung aller Smartphones und Tablets in Shopping-Portale und Bezahlmaschinen ist nur ein weiterer, konsequenter Schritt in diese Richtung. Nun sind der kommerziellen Durchdringung von Raum und Zeit keine Grenzen mehr gesetzt. Sie ist selbst zum Werbeslogan geworden, der da lautet: "Jederzeit und überall!" (zur Geschichte der Mobilisierung von Technik und Nutzer siehe Weber 2008). Die Zukunft, von der Transaktionskosten­minimierer mit blühenden Marktausschöpfungs­phantasien träumen, sind implantierte Chips, die automatisch eine Abbuchung von unseren digitalen Konten vornehmen, wenn wir eine Ware in den Einkaufskorb legen, das Eingangsportal zu einem Vergnügungspark durchschreiten oder in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigen.

[2] Anmerkung 2014: Solche begrifflichen Umstellungen können natürlich nicht wirklich die Probleme einer jeden Theoriebildung beheben, die der Vielfalt der Erscheinungen gerecht werden will. Die Akteure wissen seit Jahrtausenden, dass dem Augenblick der Entscheidung ein Moment des Wahns anhaftet, der nur durch Struktur- und Sinngebung in erträgliche Bahnen gelenkt werden kann. Deshalb haben sie unendlich viele Entscheidungsskripte und Entscheidungssettings erfunden, um den Problemen der multiplen Kontingenz und der Inkompatibilität von Notwendigkeiten, Wünschen, Anlässen und Gründen Herr zu werden. Dieses Repertoire füllt inzwischen ganze Bibliotheken und nötigt zur Entscheidung zwischen Entscheidungshilfen. Eine Entlastung von Entscheidungs­zumutungen ist nicht in Sicht, da sie mit dem Umfang und der Dichte der Vergesellschaftungs­prozesse zunehmen und die Menschen aufgrund ihrer Intelligenz und Kreativität unentwegt neue Entscheidungsprobleme kreieren. Dies gilt umso mehr für Vermarktlichungs­gesellschaften, in denen die Schaffung von Problemen selbst zu einem Geschäftszweig geworden ist, um den Verkauf von Lösungen – genauer: von Lösungsversprechen mit eingebauter Problemkontinuität (wie z.B. die "Schließung" von "Sicherheitslücken") – prosperieren zu lassen. Dank der digitalen Revolution sind der Verkomplizierung von Produkten, Technologien, Zahlungssystemen, Entscheidungen und Beziehungen keine Grenzen mehr gesetzt. Dass dies ein "Produktivitätsparadoxon" heraufbeschwören würde, war zu erwarten. Das Einfache ist der Feind des kapitalistischen Begehrens. Die Vielfalt um der Vielfalt willen dagegen nicht. Sie verspricht einen unendlichen Beschäftigungs- und Koordinierungsbedarf. Ohne ein elaboriertes Diversity Management geht es heute weder in der Personal- noch in der Produktpolitik. Der Mensch hat nun auch in den Dimensionen ökonomisches Wachstum, kulturelle Vielfalt, technisch-ökologischer Folgenreichtum und soziale Systemkomplexität zu natürlichen Evolutionsprozessen und ihrem geordneten Chaos aufgeschlossen. Alle Innovationen der Menschheit scheinen langfristig darauf hinauszulaufen, die artifiziellen Welten so komplex, intransparent und schwer kontrollierbar wie Naturwelten werden zu lassen. Die technische Multiplikation von Parallelwelten ist im vollen Gange und firmiert unter dem unschuldig daherkommenden Label "Internet der Dinge". Die Forderungen nach mehr Wissen, Informationen und Transparenz zeitigen den kontraintuitiven Effekt, das Dickicht der Entscheidungs­(erwägungs)­möglichkeiten und -zwänge weiter anwachsen zu lassen. Bald wird keiner mehr durchsehen, außer die Algorithmen und ihre Macher. Die modernen Informations- und Kommunikations­technologien scheinen jedoch zwei Formen der Verarbeitung der Tragödie der digitalen Kultur und ihrer Dilemmata mehr Raum zu geben: einer "communication without decision and choice" auf Seiten der Nutzer von Kommunikationstechniken und einer "decision and choice without communication" auf Seiten derer, die die Algorithmen und Datenströme der technischen Infrastrukturen der Kommunikation kontrollieren. Schon mancher Ausflug ins Grüne ist daran gescheitert, dass man im Internet nach allen relevanten Informationen recherchiert hat, die bei dem Ausflug hätten von Nutzen sein können, wenn man nicht nach zwei Stunden anregender Recherche gemerkt hätte, dass es sich eigentlich nicht mehr lohnt aufzubrechen, das Niederschlagsradar zudem für das Zielgebiet zur Ankunftszeit mit 100%iger Wahrscheinlichkeit Regen vorhersagt und man jetzt ohnehin schon viel mehr über Land und Leute weiß, als man in der Realität da draußen selbst je hätte in Erfahrung bringen können. Die Informationsdienste wissen dank ihres technischen Parasitismus an den Kommunikationsströmen nun ebenfalls mehr über das Sinnen und Trachten der "information seekers" als sie je hätten durch offene Interaktionen herausfinden können.

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