Henri Band
Rezension zu: Thomas Jung: Geschichte der modernen Kulturtheorie
Rezension erschienen in: paratexte printmedial 1 (2000) 2, S. 513-515.
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Der Titel des Einführungsbuches von Thomas Jung ist etwas irreführend. Es geht in dem Band um die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der klassischen deutschsprachigen Kultursoziologie. Im Mittelpunkt stehen die Gründerväter der Kultursoziologie Alfred Weber, Max Scheler, Karl Mannheim, Hans Freyer, Alfred von Martin und Norbert Elias. Der Darstellung ihrer Grundlegungsversuche und universalhistorischen Entwürfe vorgeschaltet sind Kapitel über die protestantischen Wurzeln des modernen westeuropäischen Kulturdenkens, über die kulturphilosophischen Vorbereitungen einer Kultursoziologie im 18. und 19. Jahrhundert (Giambattista Vico, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Lebensphilosophie, Historismus, Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey) und über die wissenschaftstheoretischen und soziologischen Begründungsversuche einer Kulturwissenschaft um die Jahrhundertwende und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Neukantianismus, Georg Simmel und Max Weber). Diese Strömungen bilden zusammen die drei maßgeblichen geistesgeschichtlichen Abstammungslinien der Kultursoziologie. Bewußt ausgespart wird der Begründungszweig der Kritischen Theorie. Die Behauptung, der "starke oder ausschließliche Akzent auf die deutsche Geistesgeschichte" ergäbe sich "zwangsläufig dadurch, daß das kultursoziologische Denken und damit diese Disziplin durchweg eine Angelegenheit der deutschen Geistesgeschichte ist", schießt wohl um einiges über das Ziel hinaus (S. IX). Vor dem weiten Verständnis des Verfassers von historischer Kultursoziologie könnten zumindest einige Arbeiten von Emile Durkheim und die Studie zur "Leisure Class" von Thorstein Veblen bestehen; und in Frankreich und den USA sind, vom deutschen kultursoziologischen Denken angeregt, schon vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutende empirische Arbeiten zur Kultursoziologie entstanden.
Die Vorstellung der Ansätze erfolgt nicht in selbstgenügsamer Absicht. Die übergreifende Intention des Verfassers ist es, einer Neubegründung des Selbstverständnisses der heutigen Kultursoziologie den Weg zu bereiten. Die Disziplin ist aus einer lange in die Vergangenheit zurückreichenden geistigen Bewegung entstanden, "die das geschichtliche Verhältnis von Mensch und Kulturentwicklung thematisiert". Diese Bewegung soll "als frühe Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Wissenschaftsdisziplin Kultursoziologie" herausgestellt werden. Darüber hinaus möchte Jung die "geistesgeschichtliche Topologie" des kultursoziologischen Denkens aufzeigen, um durch die Rückschau auf wichtige Begründungs- und Argumentationstopoi "diejenigen paradigmatischen Topoi zu finden, die grundsätzlich für die Kultursoziologie verbindlich sein könnten". Damit will er zugleich den Beweis antreten, daß die wahre Kultursoziologie, im Unterschied zur anspruchsarmen heutigen Kultursoziologie, "mehr ist als eine der Bindestrich-Soziologien": nämlich mindestens die gleichberechtigte Partnerin der allgemeinen Soziologie (S. VIIIf., 5). Hier pocht der Verfasser mit sichtlichem Ernst auf die disziplinäre Verortung und Aufwertung der Kultursoziologie, die sie durch ihre Gründerväter erfahren hat.
Die Beschreibung der Kulturkonzepte ist sehr konzis und eingängig. Im Aufbau folgt Jung dem Dreischritt: allgemeines Kulturverständnis, Fassung der Geschichtlichkeit des Kulturellen und des Verhältnisses von Kultur und Gesellschaft, kulturkritische Diagnose der Gegenwartsgesellschaft. Immer wieder zieht er erhellende Vergleiche zwischen den Ansätzen und spart kritische Anmerkungen zu einigen ihrer Schwächen nicht aus. In den Zusammenfassungen am Ende der Kapitel und in der Schlußbemerkung versucht er zudem, eine Antwort auf die Frage nach der Beerbbarkeit der Konzepte für die heutige Kultursoziologie zu geben.
Der Verfasser begreift Kultursoziologie als historische Wissenschaft von den Sinnkonstitutionsprozessen des Menschen und ihren gesellschaftlichen Grundlagen. Als zentrale Erbschaften der klassischen Kultursoziologie und ihrer Herkunftsgeschichte indiziert er: 1. eine gegenstandsadäquate hermeneutische Erkenntnismethode, die vor allem das in den Kulturerscheinungen "jeweils geschichtlich geltende Selbstdeutungsprinzip des Menschen als Menschen" herauspräparieren soll (S. 169), 2. eine prinzipiell historische Sichtweise auf alle Kulturphänomene unter systematischer Einbeziehung ihrer gesellschaftlichen Entstehungs- und Entwicklungskontexte, ohne die Eigenstruktur von Kultur soziologistisch oder ökonomistisch aufzulösen, sowie 3. eine engagierte zeitdiagnostische Kulturkritik, die die aktuellen Kulturphänomene und -entwicklungen am ebenfalls historisch-kulturellen Maßstab eines möglichen Humanum mißt.
In diesem Sinne könne die Kultursoziologie, so wie Elias' "Menschenwissenschaft", "nur eine Synthesewissenschaft sein", insofern sie "das Soziale und das Kulturelle als ein und denselben Bedingungszusammenhang der historischen Vergesellschaftung des Menschen" zu begreifen (S. 161) und "Kultur systematisch aus der Verknüpfung bzw. Synthese von Kulturanalyse, Sozialanalyse und Geschichtsanalyse" zu rekonstruieren habe (S. 167). Gerade in dieser Hinsicht weist nach Ansicht des Verf. die heutige Kultursoziologie beträchtliche Defizite auf: sie sei von einer zunehmenden "Enthermeneutisierung wie Enthistorisierung ihrer Untersuchungen und Fragestellungen" sowie einem unkritischen Umgang mit der Gegenwartsgesellschaft geprägt (S. 168f.). Das ist ein hartes und nicht sehr gerechtes Urteil. Es stimmt nicht einmal in Gänze für die von Jung wiederholt en passant gescholtene Lebensstilforschung. Die Ausdifferenzierung vieler spezieller Arbeitsfelder im weitgespannten kultursoziologischen Forschungsrahmen kann nicht nur als Verlustgeschichte kolportiert werden. Sie hat zu vielen Detaileinsichten in Alltagsprozesse der Sinngebungsarbeit von Menschen geführt, die in den Großentwürfen übergangen oder kulturkritisch abgekanzelt wurden. Lebensstile, Konsum, Massenmedien, Sport, Popkultur etc., das sind nun einmal die Bereiche, in denen die heutigen empirischen Menschen mehrheitlich ihre Sinngebungs- und Selbstdeutungsprozesse vollziehen. Es macht keinen rechten Sinn, den Mängeln der neueren Kultursoziologie durch den Rückgriff auf die stark geisteswissenschaftlich ausgerichtete deutsche Tradition kultursoziologischen Denkens abhelfen zu wollen, die sich – von Ausnahmen wie Max Weber, Simmel und Elias einmal abgesehen – in ihrem schwergängigen Totalitätsdenken und in ihrer universalhistorischen Aufmachung allzuoft in Spekulationen verliert und sich durch einen empfindlichen Mangel an empirischer Forschung und analytischem Denken auszeichnet.
Die Schlußbemerkung des Verfassers schürt den Eindruck, daß er selbst noch einem universalhistorischen und menschheitlichen Verständnis von Kultursoziologie nachhängt, wenn er ihr die Deutung der menschlichen Signatur der Geschichte zur Pflicht macht (vgl. S. 169). Läßt sich die Kultur der Moderne in ihrer exorbitanten Profanität und Vielgestaltigkeit überhaupt noch auf ein ihr zugrundeliegendes abstraktes "Selbstdeutungsprinzip des Menschen als Menschen" zurückführen? Sicher: Auch und gerade die Kultursoziologie darf sich "nicht einer Frage nach dem Ethos des Menschen entziehen". Diese "Referenz an eine im Grunde ethische [...] Frage" (S. 170) sollte sie aber nicht dazu verführen, den nüchternen wissenschaftlichen Blick auf die alltäglichen Kulturprozesse preiszugeben. Dem Ideal einer Kultursoziologie als einer – wie man in Anlehnung an Max Schelers Rede vom "Allmenschen" sagen könnte – Allsoziologie würde ich mich jedenfalls schon aus forschungsökonomischen Gründen nicht verschreiben.
Literatur
Jung, Thomas (1999): Geschichte der modernen Kulturtheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.