Henri Band
Die Anmutung deutsch-deutscher Markenprodukte
Rezension von: Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2003. Erschienen in: Deutschland Archiv. 36. Jg. (2003) Nr. 5, S. 899-901. Leicht verändert.
© Henri Band
Es gehört zum anthropologischen Grundwissen, in Gütern nicht nur die materielle Basis oder ein Derivat der Kultur zu sehen. Als nonverbale Medien und sichtbare Marker bringen sie das intelligible Universum der Bedeutungen und Werte einer Gesellschaft selbst mit hervor. Ungeachtet dessen fristet in der deutschsprachigen historischen Forschung – so die Einschätzung von Rainer Gries – die Untersuchung der Kulturgeschichte von Produkten immer noch ein Schattendasein.
Diesem Desiderat will der Autor mit seiner vergleichenden Studie über die Produktkommunikation in beiden deutschen Gesellschaften entgegenarbeiten. Unter einer Kulturgeschichte der Produkte versteht er eine "Geschichte der individuellen und sozialen Attribuierungen" (S. 11), die die Güter während ihres Herstellungs- und Verwendungszyklus erfahren. In Abgrenzung gegenüber einer produzentenzentrierten Sicht insistiert er auf der Vielfalt der Formen, Arenen und Akteure der Produktkommunikation und plädiert für die Einbeziehung aller, also nicht nur der im Tauschverhältnis von Verkäufer und Käufer marktwirksamen kommunikativen Akte.
Zur Veranschaulichung dieses kulturwissenschaftlichen Kommunikationsverständnisses entwickelt er ein räumliches Modell der Produktkommunikation. In dessen Mittelpunkt steht das Produkt mit seiner objektiven Physis, seinen denotativen Kernbedeutungen und der sich daran anlagernden konnotativen Aura. Um die "Produktsonne" kreisen die Kommunikatoren, die das Produkt mitgestalten, wahrnehmen und nutzen. Zu ihnen zählen nicht nur die Produzenten, Designer, Werbeleute etc., sondern auch die Konsumenten selbst, deren Gebrauchsweisen und Zuschreibungen die Gestalt und den Bedeutungshorizont der Produkte mitbestimmen (S. 84 ff.).
Diesen Ansatz versucht Gries für eine allgemeine Kultur- und Mentalitätsgeschichte methodisch fruchtbar zu machen (S. 111 ff.). Durch die Herauspräparierung der Kern- bzw. Metaerzählungen der Produkte will er jene kulturellen Grundmuster von langer Dauer aufzeigen, die das Alltagsleben der Vielen bestimmen. Für einen solchen Zugriff eignen sich erfolgreiche Markenprodukte. Ihre jahrzehntelange Präsenz am Markt und im Alltag lässt darauf schließen, dass sie zur Projektionsfläche tiefsitzender Normen und Erwartungen geworden sind. Die hohe Konstanz der Attribuierungen von Markenprodukten reflektiert nicht nur ein Verlangen der Verwender nach gleichbleibenden, verlässlichen Produktqualitäten, sondern auch nach Kontinuität und Sicherheit in ihrem eigenen Leben, nach Bestätigung ihrer Identität durch die Identität vertrauter Produkte. Ein eindrucksvoller aktueller Beleg für den engen Konnex von Produktbiographien und individuellen Lebensgeschichten ist die über zehn Jahre währende Renaissance der Ostprodukte in den neuen Bundesländern, deren Gründen der Verfasser in dem sehr lesenswerten Auftaktkapitel seines Buches nachgeht.
Gries vertritt die These einer produktkommunikativen Revolution in der Konsumgesellschaft. Markenprodukte sind nicht bloß Zeichenträger, deren Bedeutungen von anderen Medien verbreitet werden. Im Zuge der Herausbildung einer modernen Konsumkultur wurden sie zu den verlässlichsten Medien ihrer selbst. In der Bundesrepublik hat in der zweiten Hälfte der 50er und ersten Hälfte der 60er Jahre neben dem konsumtiven ein produktkommunikativer Schub stattgefunden. In der DDR gab es in den 60er Jahren ebenfalls einen spürbaren Aufschwung der Warenkommunikation. Die Selbstmedialisierung von Produkten wird besonders in Face-to-Good-Situationen greifbar, in denen die physische Präsenz des Produktes inszeniert wird: in der Bild- und Fernsehwerbung, in Versandhauskatalogen und Werbebroschüren sowie vor allem in den neuen Selbstbedienungsläden. Die Umwälzung der Kommunikationssituation am Point of Sale gab den entscheidenden Anstoß zum Medialisierungsprozess. Die Produkte in den Regalen mussten nun durch visuelle, haptische und olfaktorische Reize für sich selber sprechen.
In einem Exkurs zur Geschichte der Produkt- und Warenpräsentation in der Bundesrepublik und der DDR beschreibt Gries die sich wandelnden Produktbühnen, auf denen die Transformation der Kommunikationsformen stattfand. Beide deutsche Gesellschaften durchliefen bis Ende der 60er Jahre ähnliche Entwicklungen, wenngleich die Medialisierung der Produkte in der DDR nie das Ausmaß erreichte, wie in der Bundesrepublik. Die 70er und 80er Jahre waren in der DDR im Gegensatz zur Bundesrepublik Jahre der Stagnation und des Verfalls der Warenpräsentation. Die Produktkommunikation im Alltag blieb dennoch intensiv – als Mangeldiskurs über die Versorgungskrise und als Vergleichsdiskurs zur westdeutschen Konsumgesellschaft.
Ein Medialisierungsprozess, der wie im Westen "die Markenprodukte zu zentralen Umschlagorten von gesellschaftlichen Kommunikationen machte", hat in der DDR nicht stattgefunden (S. 282). Zugleich stellt der Autor aber zurecht heraus, dass es auch in der DDR Waren gab, "die eine prägnante und profilierte Kommunikations- und Konnotationsgeschichte aufzuweisen hatten" (S. 283), und sogar in der Mangelgesellschaft Produkte als Medien fungierten (S. 583 ff.). Diese Produkte stellten allerdings Ausnahmen im grauen Versorgungsalltag dar.
Der Hauptteil des Buches enthält exemplarische Biographien deutscher Markenprodukte aus dem Genussmittel- und Körperpflegebereich (S. 285ff.). Als Quellen nutzt Gries Firmenarchive, Marktstudien, Werbematerialien, Konsumentenbriefe und, speziell für die DDR, Berichte der Staatssicherheit. Dieser Teil besticht durch eine materialreiche Darstellung der Anmutungs-, Kommunikations- und Gebrauchsgeschichte von Platzhirschen der deutschen Markenlandschaft.
Deinhard Sekt steht mit seinen Untermarken Lila und Cabinet für die Demokratisierung eines Luxusgetränkes bei Beibehaltung seiner konnotativen Aura als besonderes Getränk für feierliche Anlässe. Rotkäppchen Sekt blieb dagegen in der DDR aufgrund seines hohen Preises und seiner Knappheit bis zuletzt eher ein Getränk für repräsentative Zwecke. Seine vollständige Demokratisierung erlebte er erst nach der Wende. Die Marke hält in Ostdeutschland inzwischen einen Marktanteil von 44 %.
Der Echte Nordhäuser Doppelkorn konnte zu DDR-Zeiten ein aideologisches Markenimage aufbauen und bewahren. Er gerierte sich eher als Deutsches denn als sozialistisches Erzeugnis und schuf sich eine eng mit der Stadt Nordhausen und der dort jahrhundertelang gepflegten Brenntradition verknüpfte Identität. In der "arbeiterlichen Gesellschaft" DDR (Wolfgang Engler) gab es kaum einen Bürger, an dem dieser hochprozentige Kelch spurlos vorübergegangen ist.
Nivea verdankt ihren Erfolg der bereits in den 20er Jahren entwickelten Universalcreme-Strategie und der zum Produktarchetypus gewordenen blauen Dose. Die hohe Stasis des Markenbildes wurde erst durch die Herausforderung von Creme 21 Anfang der 70er Jahre aufgebrochen. Die Florena-Creme agierte in der DDR als ostdeutsche Nivea mit ähnlichen Anmutungsqualitäten wie ihre große Schwester in der Bundesrepublik.
Die komparative Darstellung verwandter Produktbiographien leidet etwas an der Ungleichwertigkeit des Quellenmaterials. Den Autor trifft dafür keine Schuld. Rotkäppchen und Florena lehnten aus kommunikationspolitischen Gründen eine Zusammenarbeit mit dem Historiker ab und gewährten ihm keinen Zugang zu den Betriebsarchiven. Den Wert der Ergebnisse schmälert das aber nicht entscheidend.
Markenprodukte für den Massenkonsum entziehen sich schnellen modischen Wechseln, folgen eher dem Zeitgeist als dass sie ihm vorangehen und setzen mit Erfolg auf Kontinuität und Sicherheit. Sie sind, so Gries, die Immobilien des Handels, der Alltagskultur und der Gesellschaft. Eine ihrer zentralen Funktionen besteht darin, in einer komplexen Welt Vertrauen zu stiften – nicht nur in die Produkte selbst oder in die Routinen des Alltags, sondern auch in Staat und Gesellschaft (S. 561 ff.). Wo ihnen das nicht oder nur unzureichend gelingt, wie in der DDR, kann die Krise der Produktkommunikation zur Quelle eines generalisierten Misstrauens in die Leistungs- und Bestandsfähigkeit einer ganzen Gesellschaft werden und den Glauben an die Legitimität der politischen und wirtschaftlichen Ordnung zerstören.
Literatur
Gries, Rainer (2003): Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.