Startseite

Henri Band

Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR

Rezension zu: Ina Merkel: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln u.a.: Böhlau. Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs. 11. Jg. (2000) Heft 3, S. 117-122.

© Henri Band

Artefakte aus dem Alltag der DDR sind in. Kultfibeln und Devotionalienhändler vermarkten sie als schrille Blüten einer autochthonen sozialistischen Trash-Kultur. Besonders jüngere Leute, die sich von den Rücksichten der Vergangenheitsbewältigung ironisch verabschiedet haben, pflegen ein demonstrativ kultisches Verhältnis zur Objektkultur der DDR. Diejenigen dagegen, die mit der DDR nur schlechte Erinnerungen an eine Mangelgesellschaft und Bedürfnisdiktatur verbinden, werden die Rede von einer „Konsumkultur“ in der DDR schlichtweg für unpassend halten. Am verbreitetsten ist im Osten aber derzeit eine Teilrehabilitierung der Konsum- und Alltagskultur der DDR, die sich aus einer Abwehrhaltung gegenüber der westdeutschen Kultur und ihren vollmundigen Versprechungen speist. Der schnöde Konsumalltag in der DDR gerät darüber mehr und mehr in Vergessenheit. Diesem Vergessen entgegenzuarbeiten, legitimiert sich nicht allein aus dem wissenschaftlichen Interesse an einer ethnographisch genauen und kultursoziologisch reflektierten Rekonstruktion eines wichtigen Bereiches des Alltagslebens in der DDR. Der Systemwettbewerb zwischen Kapitalismus und Sozialismus ging schließlich auch und vor allem auf dem Schlachtfeld des Konsums verloren. Mochte auch nach offizieller Doktrin der Arbeitsplatz der Kampfplatz für den (Welt‑)Frieden sein, der Kampfplatz für den inneren Frieden in der DDR war zweifelsohne die Konsumwelt. Die Beschäftigung mit der Konsumkultur der DDR führt mitten in den Alltagskern des Scheiterns des kommunistisch-sozialistischen Revolutionsprojektes.

In ihrem Buch bzw. ihrer Habilitationsarbeit zur Geschichte der Konsumkultur in der DDR verfolgt Ina Merkel das Ziel, die Eigenart und die „Eigenlogik der Entwicklung der Konsumtionsverhältnisse unter sozialistischen Verhältnissen“ zu erfassen (S. 12). Deren Verständnis wird durch die in der Forschung verbreiteten Begriffe und Konzepte von Konsumgesellschaft und Konsumkultur erschwert, denn die sind in der Regel von vornherein auf die historisch-typologische Charakterisierung der westlichen Massenkonsum­gesellschaften zugeschnitten. Vor diesem Hintergrund werden die sozialistischen Gesellschaften zumeist recht plakativ als Mangel- oder Versorgungsgesellschaften beschrieben. Merkel entscheidet sich für den unbelasteteren Begriff der Konsumkultur und reformuliert ihn unter einer erweiterten, anthropologischen bzw. ethnologischen Perspektive. Sie definiert „Konsumkultur [...] als das widersprüchliche Verhältnis von Konsumpolitik – sowohl als wirtschaftspolitische Strategie wie auch als ideologischer oder kultureller Wertehorizont oder sogar als Erziehungsimpetus gefaßt – und Konsumverhalten – begriffen als individuelle Aneignungsweise, in der der Zusammenhang von sozialer Lage, Tradition und Mentalität aufscheint. [...] Konsumkultur umfaßt die Formen des Erwerbs von Gegenständen ebenso wie ihren praktisch-aneignenden und symbolisch-kommunikativen Gebrauch.“ (S. 27f.) Ein solches weites, kulturanthropologisches Verständnis von Konsum impliziert die Anerkennung der Tatsache, daß jede Gesellschaft und jede historische Periode ihre mehr oder weniger eigentümliche Konsumkultur hat, die der komparativen Analyse zugänglich gemacht werden kann. Diesen begrifflichen Vorgaben entspricht der ausgesprochen weite Untersuchungshorizont der Arbeit. Die Autorin rekonstruiert die Geschichte der Konsumkultur in der DDR unter der Perspektive der utopischen Ideale und kulturellen Wertvorstellungen, die die politischen Funktionäre, die Wirtschaftsakteure und die Bevölkerung mit dem Konsum unter sozialistischen Verhältnissen verbanden, der Perspektive der Konsumpolitik und ihres widersprüchlichen Umgangs mit den kommunistischen Idealen sowie der Perspektive der individuellen Praxen des Erwerbs und Gebrauchs und der dabei ausgebildeten mentalen Traditionsbestände der DDR-Bürger. In je eigenen ausführlichen Abschnitten widmet sie sich den Produktions-, Verteilungs- und Gebrauchsverhältnissen. Sie konzentriert sich dabei auf die Entwicklungen und Debatten in der Zeit zwischen 1958 und 1972, gibt aber auch Ausblicke auf konsumhistorische Entwicklungen jenseits dieses Zeitraumes. In der systemeigenen Amalgamierung von utopischem Anspruch, politischer Dogmatik, ökonomischer Pragmatik und alltäglicher Konsumpraxis formierte sich das, was man als DDR-spezifische Konsumkultur bezeichnen kann. Merkel stützt sich bei ihrer Darstellung auf zahlreiche aussagekräftige Dokumente aus diversen Archiven der Parteien und Massenorganisationen, die belegen, wie intensiv Fragen der Versorgung und des Konsums auf allen Ebenen der Gesellschaft bis hin zum Politbüro reflektiert, jedoch selten in aller Öffentlichkeit diskutiert wurden. Eine weitere wichtige Quelle bilden Interviews mit Zeitzeugen, die 1997/98 durchgeführt wurden.

In dem Abschnitt „Produktion und Bedürfnis“ geht die Autorin zunächst den Gründen für die defizitäre Angebotslage bei Konsumgütern nach. Die Vernachlässigung der Konsumgüterindustrie gegenüber der Schwerindustrie, die sozial motivierte Politik der festen Preise und der Subventionierung des Grundbedarfs, die wechselvolle ideologisch motivierte Politik gegenüber den privaten Kleinindustriellen und Handwerkern und die übereilte Kollektivierung der Landwirtschaft waren für die Versorgungsmisere hauptsächlich verantwortlich. Gerade die Dauerthemen Preisveränderungen und Subventionen zeigen, wie sehr die Staats- und Parteiführung von Anfang an zur Gefangenen ihrer eigenen Ideologie geworden war. Eingriffe in das Preis- und Subventionsgefüge wurden immer wieder diskutiert und zumeist verworfen. Die traumatisierenden Erfahrungen des 17. Juni 1953 und ein materiales Gleichheits-, Gerechtigkeits- und Wert- bzw. Preisverständnis, das sowohl in der Parteiführung als auch in der Bevölkerung verankert war, verhinderten bis zum Ende der DDR die Durchsetzung von ökonomischen Rentabilitätskriterien im Konsumbereich (S. 44ff.).

Dem Mangel und den Engpässen bei zahlreichen Gütern des täglichen und des gehobenen Bedarfs standen auf der anderen Seite beträchtliche Mengen an Überplanbeständen und Ladenhütern gegenüber, die nicht an den Kunden zu bringen waren. Aus beiden Disproportionserscheinungen, die es der planwirtschaftlichen Theorie nach eigentlich gar nicht geben durfte, speiste sich die immer wieder geäußerte Forderung nach einer bedarfsgerechten Produktion, die wiederum ein gesichertes Wissen über die Bedürfnisse und ihre zukünftige Entwicklung voraussetzte. Die permanenten Versuche, Produktion und Bedürfnis aufeinander abzustimmen, führten schließlich 1962 sogar zur Gründung eines Instituts für Bedarfsforschung, später Marktforschung (S. 134ff.). Sie entsprangen dem sozialismustypischen Glauben an die wissenschaftlich begründete Planbarkeit und Lenkbarkeit aller ökonomischen Prozesse, einschließlich der Bedürfnisse – ein Glaube, der sich immer wieder am Konsumalltag brach. Die Versorgungsprobleme waren nicht nur Ausdruck unökonomischer konsumpolitischer Entscheidungen und des Unwillens, „das spannungsvolle Verhältnis von Produktion und Bedürfnissen der selbständigen Entscheidung kompetenter Wirtschaftsfachleute zu überlassen“, sondern auch der passiven „Durchsetzungskraft der Konsumenten [...], die man zwar agitieren, aber nicht zu einem bestimmten Konsumverhalten zwingen konnte“ (S. 119). Nur eine Diktatur über die Bedürfnisse hätte dem Eigensinn der Konsumenten ein Ende setzen können. Die DDR war aber eine diktatorisch gelenkte Zentralverwaltungswirtschaft mit relativ freier Konsum- und Arbeitsplatzwahl. Alle Bemühungen, die marktmäßige Bewegung von Gütern und Preisen auszuschalten, wurden vom relativ marktmäßigen Verhalten der Werktätigen als Konsumenten und Produzenten unterlaufen. Letzteres fiel seit den 60er Jahren immer mehr ins Gewicht, als auch in der DDR eine moderate Individualisierung der Verhaltensmuster in Gang kam. Dem staatlicherseits durchaus ernsthaft vertretenen Anspruch einer immer besseren Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung lag letztlich ein stationäres und egalitäres Bedürfniskonzept zugrunde, das auf die „Aufhebung der Elendslagen werktätiger Schichten im 20. Jahrhundert“ fixiert war (S. 115) und sich um die zum Dogma erhobene „Dreifaltigkeit von Arbeit, Brot und Wohnen“ drehte (S. 414). Noch Honeckers Wohnungsbauprogramm folgte diesem Konzept. Es gab aber einen gewissen, durch gemeinsame Generationserfahrungen fundierten Grundkonsens zwischen Politik und Bevölkerung hinsichtlich der Auffassungen über vernünftige Bedürfnisse, einen vernünftigen Gebrauch und der gesellschaftlichen Inopportunität von Vergeudung und zur Schau gestelltem Luxus (S. 160). Eine befriedigende Harmonisierung des Verhältnisses zwischen Produktion und Bedürfnis – Voraussetzung einer reibungslos funktionierenden Planwirtschaft – gelang der sozialistischen Zentralverwaltungswirtschaft zu keiner Zeit. Zäh hielt man aber an dem Glauben fest, daß dies auf der Basis sozialistischer Eigentumsverhältnisse möglich und durch eine Qualifizierung der Planung und eine Lenkung und Erziehung der Bedürfnisse zu realisieren sei.

Im zweiten Teil ihrer Arbeit beleuchtet Merkel die sozialistischen Verteilungsverhältnisse. Bekanntermaßen war es um die Verkaufskultur in der DDR nicht sonderlich gut bestellt. Darin spiegelte sich die subalterne Stellung des Handels wider, dem zwar die Hauptverantwortung für die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung aufgebürdet wurde, der aber gleichwohl eine schwache Position gegenüber den Produzenten innehatte und sich in der Rolle des Sündenbocks wiederfand. Dieses Dilemma kam in dem von Macht und Ohnmacht geprägten Verhältnis zwischen den Verkäufer/innen und den Kunden zum Austrag, bei dem Unlust am Verkauf auf der einen und Frust beim Kauf auf der anderen Seite konfliktvoll aufeinandertrafen (S. 185ff.). Nicht genug, daß die Partei die Freiheit der Bürger einschränkte, auch untereinander machten sie sich nicht selten das Leben schwer. Das heute so oft beschworene ostdeutsche Gemeinschaftsgefühl war damals an Beziehungsnetze gebunden, jenseits derer man nicht unbedingt einen Anspruch auf einen freundlichen Umgangston genoß. Zu einer übergreifenden Solidargemeinschaft sind die Ostdeutschen erst in und nach der Wende verschmolzen, zu DDR-Zeiten ging es besonders im Konsumalltag mehr rauh als herzlich zu. Zum Bedauern des Rezensenten geht die Autorin in ihrem Buch nirgendwo auf das „Meckern“ als „habituell verfestigte Grundhaltung“ der DDR-Konsumenten ein, das sie in anderen Publikationen zu Recht als wichtiges mentales Element zur Beschreibung der DDR-Konsumkultur bezeichnet hat.

Einen gewissen Handlungsspielraum hatte der Handel bei der Modernisierung der Formen des Verkaufs, die seit Ende der 50er Jahre vorangetrieben wurde. Sie folgte zum einen allgemeinen westeuropäischen Trends (Selbstbedienung, Versandhandel), zum anderen sozialismuseigenen Modernisierungsideen wie der Handelsnetzbereinigung und Spezialisierung der Geschäfte, der Angleichung der Konsumtionsmöglichkeiten von Stadt und Land und der Schaffung von Einkaufserleichterungen für berufstätige Frauen (S. 194ff.). Aber auch Veränderungen, die westliche Muster aufgriffen, wurden stets sozialistisch umgedeutet. Hier bewährt sich die kulturwissenschaftliche Perspektive der Autorin, als sie auch die Deutungs- und Umdeutungsprozesse berücksichtigt, die sich um scheinbar internationale Konsumphänomene rankten. Ein in dieser Hinsicht markantes Beispiel sind u.a. die Debatten um den Sinn und Unsinn von Schaufenstergestaltung und Werbung im Sozialismus (S. 210ff.). So sollte die Werbung nicht zum Kaufen animieren, sondern der Produktinformation, Bedarfslenkung, Erziehung zur sozialistischen Lebensweise und der Demonstration der sozialistischen Leistungsfähigkeit dienen. Freilich bestand das Dilemma der sozialistischen Werbung darin, „daß für die Waren, die repräsentativen Charakter hatten, aus Mangelgründen nicht geworben werden durfte“ (S. 221) – und so wurde schließlich das Werbefernsehen 1976 abgeschafft.

Im sozialistischen Handel existierten marktförmige und nichtmarktförmige Verteilungsformen nebeneinander. Besonders die Verteilung von Mangelwaren erfolgte nach nichtmarktförmigen Mustern wie Bestellisten und Sonderzuteilungen für ausgewählte Bevölkerungsgruppen, Betriebe und Regionen nach politischen Opportunitäts- und Leistungskriterien. Darüber hinaus förderte man gemeinschaftliche Formen des Konsums. Diese Maßnahmen sollten eine gerechte und egalitäre Verteilung sichern, schürten aber nicht selten Sozialneid, Mißgunst und findige Strategien, der Dringlichkeit des eigenen Bedarfs Nachdruck zu verleihen. Marktwirtschaftliche Verteilungsprinzipien herrschten dagegen in Einrichtungen wie Intershop und Genex, Exquisit und Delikat (S. 243ff.). Die Devisennot kannte kein sozialistisches Gebot, und so blühten die Intershops im halbverborgenen groß auf. Für Normalkonsumenten, die Westzahlungsmittel und ‑verwandte entbehren mußten, wurden in den 60er Jahren kapitalistische Konsumenklaven in Form von Exquisit-Läden für Bekleidungsmode und Delikat-Geschäften für gehobene Gaumenfreuden geschaffen und unter Honecker massiv ausgebaut. Sie zeugen von der Widersprüchlichkeit der Konsumpolitik in der DDR, aber auch von der Macht ökonomischer Überlegungen, denn die genannten Einrichtungen sollten nicht nur die Konsumenten glücklicher machen, sondern den wachsenden Kaufkraftüberhang abschöpfen und gewinnorientierte Preise auf immer mehr Waren ausdehnen. Gleichwohl waren auch diese Geschäfte der kumulierten Kaufkraft der Bürger nicht voll gewachsen. Die Erfolgsgeschichte der Ladenketten ist ein starkes Indiz dafür, daß sich auch in der DDR das Konsumverhalten in Richtung eines Strebens nach sozialer Distinktion und individuellem Genuß zu verändern begann. Die Politik der zwei Waren- und Preisklassen (billiges, subventioniertes Normalsortiment und überteuerte Waren des gehobenen Bedarfs) förderte die soziale Differenzierung zwischen den Bevölkerungsgruppen und konterkarierte die Egalisierungstendenzen.

Komplementär zur lückenhaften Versorgungssituation und systemeigenen Verteilungskultur bildete sich ein ganzes Set von individuellen Strategien des Erwerbs der begehrten Güter und Dienstleistungen heraus. Das Einkaufen war nur eine Praxis unter vielen. Nicht von ungefähr bevorzugte man im Alltag oft den treffenderen Ausdruck „besorgen“. Für Shopping im Sinne eines entspannten Erlebniseinkaufsbummels durch reich bestückte Konsumtempel bot der DDR-Konsumalltag selten Gelegenheit. Einkaufen war Beschaffungsarbeit, zu der man auch schon mal den Arbeitsplatz vor dem Feierabend verließ. Denn seinerzeit bestand die große Kunst darin, zur rechten Zeit am rechten Auslieferungsort zu sein. Hatte man diesbezüglich keine verläßlichen Insiderinformationen, mußte man die betreffenden Geschäfte regelmäßig abgrasen. Und: „Man kaufte, wenn es etwas gab[,] und nicht, wenn man etwas brauchte.“ (S. 278) Merkel bietet einen kurzweiligen Schnelldurchlauf durch die vielfältigen systemkonformen und nonkonformen individuellen Erwerbsstrategien wie Schlangestehen, Herumrennen und Suchen, Selbermachen, Vordrängeln, Tauschgeschäfte, Stehlen, Schmuggeln, Westgeschenke, Horten und Hamstern, Beziehungen (Vitamin B) und Bestechung, die von der hohen Beschaffungskreativität gelernter DDR-Bürger zeugen (S. 277ff.). Alle angeführten Praxen verweisen auf das Grunderlebnis einer aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigung, die zur Quelle tiefer Frustrationen und ungeahnter Glücksgefühle werden konnte (S. 297). Die Distribution der Güter und Dienstleistungen wurde nicht nur über den dafür bestimmten Einzelhandel, sondern in großem Umfang auch über die Betriebe und Institutionen abgewickelt. Neben der legalen betrieblichen Versorgung existierte die informelle innerbetriebliche Selbstversorgung der Produzenten mit Material, Werkzeug und Arbeitsvermögen, die je nach Geeignetheit und Zugänglichkeit der betrieblichen Springquellen des Reichtums beträchtliche Ausmaße annehmen konnte. Die Nutzung von Arbeitszeit als „disposable time“ zur freien Selbstverwirklichung und Selbstversorgung war durchaus kein Randphänomen und die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit nicht nur im Privatleben fließend. Dieser informelle Sektor der gesellschaftlichen Konsumtion und die innerbetriebliche Doppelrolle der Werktätigen als Produzenten und Konsumenten des gesellschaftlichen Reichtums wären ein gesondertes Kapitel in einer Untersuchung über die Konsumkultur in der DDR wert (vgl. S. 307f.).

Im letzten Teil des Buches widmet sich die Autorin der Untersuchung der kulturellen Praxen des Gebrauchs und Verbrauchs von Konsumgütern in der DDR und ihren mentalitätsprägenden Wirkungen. Um es gleich vorwegzunehmen: Im Vergleich zu den beiden anderen Abschnitten fällt der Ertrag der Untersuchung der Gebrauchsweisen nicht sonderlich ergiebig aus. Die Rekonstruktion der individuellen Gebrauchs- und Verbrauchsmuster erreicht nicht das Niveau und die Dichte der Beschreibung der Erwerbsstrategien. Das ist zum Teil Folge eines akuten Quellenproblems, wie die Autorin selbst zu bedenken gibt. Der Alltag der DDR ist unwiderruflich verschwunden, geblieben sind Erinnerungen, Mentalitätsmuster und ausgewählte Artefakte. Zum Teil drückt sich darin aber auch eine konzeptionelle Unentschiedenheit des Kapitels und der Anlage der hier ausführlich herangezogenen Zeitzeugeninterviews aus. Merkel wählt vor allem den Weg, von den mentalen Prägungen der Interviewten durch die DDR, wie sie sich in „ihrem heutigen Verhältnis zur DDR-Produktkultur“ zeigen (S. 360, Hervorhebung H.B.), Rückschlüsse auf das Verständnis der individuellen Konsumtionsmuster zu ziehen, statt konsequenter nach den damaligen Gebrauchsweisen und Deutungsmustern zu fragen. Zudem ist meist nur von den Gründen die Rede, warum bestimmte Gegenstände aufgehoben, weggeworfen oder neu angeschafft wurden. Damit wird das Spektrum des praktisch-aneignenden Gebrauchs der Dinge im Alltag nur unzureichend erfaßt. Insgesamt entsteht ein eher versöhnlicher Rückblick auf den ostdeutschen Konsumalltag, der oft in direkter Abgrenzung zur heutigen westlichen Konsumkultur artikuliert wird, statt ein ethnographisch möglichst genaues Abbild der Verhältnisse von einst. Dessen sind sich die Befragten und die Autorin im Grunde durchaus bewußt (S. 397ff.), aber ich hätte mir von seiten der Interviewer/innen ein hartnäckigeres Insistieren auf einer um mehr historische Wirklichkeitsnähe bemühten Erinnerungsarbeit gewünscht. Als „Gegenlektüre“ empfehle ich daher den von der Autorin herausgegebenen Band mit Briefen an das Fernsehen der DDR „Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation!“, die hier erstaunlicherweise nicht als Quelle herangezogen werden.

Vor der Rekonstruktion einiger Besonderheiten der Beziehung von Ex-DDR-Bürgern zu den von ihnen konsumierten Gegenständen geht Merkel zunächst jedoch noch dem allgemeinen Wandel der Konsumtions- und Bedürfnisstrukturen in der Geschichte der DDR (S. 310ff.) und den soziokulturellen Unterschieden in den Praxen des Gebrauchs und Verbrauchs von Konsumgütern nach (S. 331ff.). Als Entwicklungsetappen unterscheidet sie die Bedarfsdeckungsgesellschaft, die von Not- und Mangelzuständen in der Grundversorgung und einem Rationierungssystem geprägt war (1945–1958), den Übergang zu einer über den existentiellen Bedarf hinausgehenden Bedürfnisbefriedigung und einer Teilmodernisierung der Konsumkultur unter sozialistischem Vorzeichen (1959–1970) und schließlich den sukzessiven Abschied von den utopischen Momenten des sozialistischen Bedürfniskonzeptes zugunsten einer immer stärkeren Orientierung an westlichen und kleinbürgerlichen Mustern des Konsums (1971–1989). An den Veränderungen der Konsum- und Freizeitkultur hin zu einer besseren Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Wohlstandsgütern, zu mehr Freizeit und Mobilität partizipierten nahezu alle Schichten, wenn auch in zeitlich verzögerten Phasen. Gerade bei der Ausstattung mit hochwertigen Konsumgütern waren die sozialen Unterschiede zwischen den Klassen und Schichten in den 60er Jahren noch beträchtlich. In den 70er und 80er Jahren ebneten sich diese Unterschiede ein, ohne gänzlich zu verschwinden. Diese Nivellierung des Konsums erklärt sich zum Teil auch dadurch, daß sich alle Schichten insbesondere bei der Wahl von Ausstattungsgütern an ein stark standardisiertes Angebot halten mußten, das im Vergleich zur westlichen Konsumgesellschaft viel weniger Spielraum für den Kauf sozial distinguierender Produkte innerhalb einer Produktgruppe bot. Die Entwicklung der soziokulturellen Unterschiede in der DDR sieht die Autorin durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: eine Tendenz zur Entdifferenzierung im Sinne eines Schwindens klassen- und schichttypischer Unterschiede der sozialen Lage und des Konsums und eine Tendenz zur Redifferenzierung im Sinne eines Bedeutungszuwachses von anderen Kriterien wie Geschlecht, Alter, Wohnort (Stadt/Land), Bildung, (West‑)Verwandtschaft und Beziehungen sowie zur Individualisierung im Sinne eines gebremsten Wertewandels hin zu mehr Selbstverwirklichung und Genuß (S. 335ff.). Sie vertritt die – allerdings ihrer Ansicht nach empirisch noch nicht ausreichend belegte – These einer „fortschreitende[n] Entproletarisierung und Auflösung traditioneller Arbeitermilieus bei gleichzeitiger Entstehung eines neuen – durchaus heterogenen – Milieus von Werktätigen“ (S. 309, auch S. 345f. und 356f.). Diese Entwicklung hat zu einer partiellen Generalisierung von Eigenschaften des proletarischen Habitus, aber auch des kleinbürgerlichen Ethos und ihrer Durchmischung – auch im Konsum – geführt, die die Rede von der DDR als „Land der kleinen Leute“ soziologisch als gerechtfertigt erscheinen läßt.

Den Abschluß des Buches bildet – wie bereits erwähnt – die Suche nach den mentalen Prägungen, die die Konsumkultur der DDR bei ihren Bürgern hinterlassen hat, und nach den Grundmustern des DDR- bzw. osttypischen Konsumverhaltens. Bei aller Kritik an der oben bereits erwähnten allzu nachsichtigen Hinnahme der retrospektiv verklärenden Sicht der Befragten auf den ehemaligen Konsumalltag, bringen die vorgestellten Interviewpassagen durchaus einige Eigenheiten des Umgangs der Ex-DDR-Bürger mit den Konsumgegenständen ans Licht: ein hohes Maß an Behutsamkeit im Umgang mit den DDR-Produkten, die die Nachwendeanschaffungs- und -vermüllungswellen überlebt haben, und die sich bis zur kultischen Verehrung von einst profanen Gebrauchsobjekten steigern kann, eine auf Erhaltung und Bewahrung zielende Gebrauchs- und Reparaturmentalität, ein ausgesprochener Sinn fürs Praktische und Solide, eine breite Ablehnung der Wegwerfmentalität, eine Reserve gegenüber allzuschnellen modischen Wechseln. Nach Ansicht der Autorin drücken sich „darin kulturelle Wertvorstellungen aus, die von einer gewissen Treue gegenüber den sozialistischen Konsumidealen zeugen“ (S. 380). Bei der Deutung dieser Werte durch die Verfasserin nehmen die Ex-DDR-Konsumenten allerdings unter der Hand Züge des edlen (Ost‑)Wilden an – vernünftig, praktisch und bescheiden. Die Unterschiede zum Westen scheinen mir z.T. überpointiert. Westliche Forschungen haben gezeigt, daß auch in der westlichen Konsumgesellschaft die biographische Beziehung zwischen Menschen und Dingen oftmals eine weit innigere ist, als uns Marketinggurus und Konsumkritiker weismachen wollen. Den Milieuunterschieden zwischen den Probanden wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Das ehemalige Werktätigenmilieu dürfte sich inzwischen, was die Konsumstile betrifft, wieder erheblich differenziert haben. Die verbalen Äußerungen der interviewten Ostdeutschen zu ihrem Konsumverhalten sind stark in die deutsch-deutschen Debatten eingebunden und „gegen heute dominierende Negativurteile über das Leben in der DDR gesprochen“ (S. 370). Zudem läßt das Vorgehen, wie die Interviewten gewonnen wurden, auf starke Selektionseffekte schließen. Die Verfasserin weist wiederholt darauf hin, daß die Gruppe und ihre Äußerungen nicht als repräsentativ angesehen werden können (S. 360f.). Das alles wirft die prinzipielle Frage auf, inwieweit diese Äußerungen sichere Belege für die heutige und die damalige Konsumpraxis liefern – schließlich räumt der eine oder andere Interviewte ja selbst ein, daß sie damals „über das Zeug meist anders gedacht“ haben und „vieles ganz oft einfach Scheiße“ fanden (S. 400).

Ungeachtet dieser Kritik handelt es sich bei der Untersuchung von Ina Merkel, sowohl was die methodische Anlage als auch die Fülle des Materials betrifft, um einen großen Wurf. Fast ist der Rezensent sogar geneigt, von einem Meilenstein der kulturwissenschaftlichen Konsumforschung zu sprechen, wenn er denn von allen Seiten gleichermaßen sorgfältig behauen worden wäre. Die technischen Fehler und die stilistische und inhaltliche Ungereimtheit so mancher Formulierung zeugen einmal mehr vom Drama nichtlektorierter Bücher, das einem gebrauchswertorientierten Leser die Freude an der Lektüre verderben kann.

Literatur

Merkel, Ina (1999): Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

Merkel, Ina (Hrsg.) (2000): „Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation!“ Briefe an das Fernsehen der DDR. Stark erweiterte Neuausgabe. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag.

Startseite

eXTReMe Tracker