Startseite

Henri Band

Die Entstehung des modernen Konsums

Rezension zu: Ariane Stihler: Die Entstehung des modernen Konsums. Erschienen in: paratexte printmedial 1 (2000) 1, S. 195-198. Leicht verändert.

© Henri Band

Nach einer kurzen Blüte der Konsumsoziologie Anfang der 1970er Jahre ist es in Deutschland um die sozialwissenschaftliche Konsumforschung still geworden. Die Vermutung liegt nahe, daß dieses Forschungsfeld hierzulande deshalb wenig Früchte trägt, weil es immer noch im Schatten kulturkritischer Denktraditionen liegt. Ein gleichartiges Defizit an konsumkritischen Texten gibt es jedenfalls nicht zu beklagen. Erst in den letzten Jahren sind unter anderem im Zuge der Lebensstildebatte wieder vermehrt gewichtige Publikationen zum Thema Konsumgesellschaft erschienen. Von einer blühenden Konsumforschung kann allerdings in Deutschland – im Unterschied zum englischsprachigen Raum – immer noch keine Rede sein. Insofern ist es ein lohnendes und verdienstvolles Unterfangen, die klassischen und aktuellen Beiträge zur Erforschung der Geschichte und der Verfassung der modernen Konsumgesellschaft und des modernen Konsums zu sichten, um den Anschluß an die internationale Diskussion wiederherzustellen. Genau dieses Ziel verfolgt Ariane Stihler mit ihrem Buch "Die Entstehung des modernen Konsums". Wie andere Autoren vor ihr geht die Verfasserin von der Überzeugung aus, daß in den westlichen Ländern zeitgleich zur industriellen Revolution eine Konsumrevolution stattgefunden hat und erst das Zusammenspiel dieser beiden großen Transformationen den wirtschaftlichen Aufschwung dieser Länder erklären kann. Im Mittelpunkt des ersten Abschnittes steht die Entstehung des modernen Konsumverhaltens im 18. und 19. Jh. In diesem Zeitraum vollzog sich die eigentliche Konsumrevolution. Schwerpunkt der Argumentation bildet England, das sich im 18. Jh. zur ersten Konsumgesellschaft der Welt entwickelt hat. Daran schließt sich die Darstellung der Metamorphosen des Konsums im 20. Jh. an, die die Verfasserin als Fortsetzung und Erweiterung der im 18. Jh. angestoßenen Prozesse begreift. Dabei geht sie jeweils sowohl den nachfrageseitigen als auch den angebotsseitigen Veränderungen und ihren Wechselwirkungen nach.

England wurde (neben Holland) zum Vorreiter des Übergangs zur Konsumgesellschaft, weil hier erstmals die produktionstechnischen, finanziellen, rechtlichen und sozialen Beschränkungen durchbrochen wurden, denen der Konsum in der ständischen Agrargesellschaft unterlag. Im Anschluß an die Konsumforschungen vor allem britischer Historiker um Neil McKendrick macht Stihler den Prozeß der sozialen Nachahmung bzw. den Trickle-down-Mechanismus als einen Hauptmotor der sozialen und geographischen Ausbreitung der einst dem reichen Adel vorbehaltenen Luxusgüter und der modernen Konsumeinstellungen in der englischen Gesellschaft aus (vgl. S. 24ff.). Die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten und die Bereitschaft zum Kauf vieler Güter nahm zu. Ein weiteres wichtiges Indiz für die Wandlung des Konsumregimes in Richtung moderne Konsumkultur stellt die gestiegene Bedeutung der Mode und die sich ausbreitende Präferenz für das Neue dar. Besonders die Kleidungsmode wechselte in immer kürzeren Abständen, und immer mehr Konsumbereiche unterlagen Veränderungen nach modischen Gesichtspunkten. Auf der Angebotsseite vollzog sich eine Kommerzialisierung von Produktion, Handel und Gesellschaft, die sich in der Herausbildung aktiv verkaufsfördernder Marketing- und Werbetechniken, neuer kundenorientierter Präsentations- und Verkaufsmethoden sowie im Aufbau nationaler und internationaler Vertriebssysteme niederschlug.

Die Entwicklungen im 19. Jh. veranschaulicht Stihler durch die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der Kaufhäuser. Als Paradebeispiel dient einmal mehr das 1852 eröffnete Bon Marché in Paris. Die von seinem Gründer Aristide Boucicaut eingeführten Neuerungen umfaßten die gezielte Steigerung des Warenumsatzes durch niedrige Preise, den Verkauf der Waren zu festen Preisen, die Gewähr eines freien und zwanglosen Geschäftszutrittes, die Möglichkeit, die Waren zurückzugeben oder umzutauschen, ein ausgeprägtes Kundendienstverständnis des Kaufhauspersonals, die Organisation des Geschäftes nach Abteilungen sowie die systematische Nutzung einer Vielzahl von Werbemaßnahmen wie ganzseitigen Zeitungsanzeigen, die Durchführung von Ausstellungen und Ausverkäufen und die Gestaltung einer angenehmen Verkaufsatmosphäre (vgl. S. 81ff.). Diese Veränderungen schufen eine neue Kultur der Begegnung zwischen Ware und Kundin/Kunde, die die Distanz zwischen beiden abzubauen bestrebt war und verstärkt auf die Verführungskraft durch die Produkte selbst setzte, deren Warencharakter mit allen Mitteln der angewandten Künste kaschiert wurde. Die zumeist weiblichen Kunden aus der bürgerlichen Mittelschicht konnten nunmehr im wahrsten Sinne des Wortes in die Warenwelt eintauchen und den möglichen Besitz der Güter auch sinnlich antizipieren.

Für die Entwicklungen des Konsums im 20. Jh. stellt die Verfasserin zwei besonders relevante Faktoren und ihre Wechselwirkung heraus: die Lockerung der Einkommensrestriktionen für nahezu alle Schichten und die verstärkte Erlebnisorientierung der Konsumenten. Sie bilden auf der Nachfrageseite die äußeren und inneren Bedingungen für die weitere Expansion der Konsumkultur, der Ausbreitung neuer Bedarfe auf immer weitere Bevölkerungskreise. Die Lockerung der Einkommensrestriktionen erfolgte nicht nur durch eine kräftige Steigerung der Realeinkommen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem auch durch die immer umfangreichere Gewährung und Inanspruchnahme von Konsumkrediten. Im Zuge eines allgemeinen Wertewandels haben sich Hedonismus und Erlebnisorientierung als neue Wertetrends etabliert. Die Konsumenten fragen Güter weniger wegen ihres funktionellen Nutzens, sondern aufgrund erlebnisrelevanter Eigenschaften nach, die emotionale An- und Aufregung versprechen. Die Figur des Erlebniskonsumenten bzw. des "recreational shoppers" entstand (vgl. S. 111ff.), und das "Shopping" wurde als Erlebniseinkaufsbummel zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung von Millionen Menschen (vgl. S. 113ff.). Der Siegeszug des Erlebnismarketing bescherte uns riesige "shopping malls" und andere inszenierte Erlebniswelten, in denen Konsum, Unterhaltung und Tourismus miteinander verquickt werden (vgl. S. 123ff.). Daß gegenwärtig eine "Abkehr von der Dominanz des Gebrauchsnutzens der Güter und eine gleichzeitige Bedeutungszunahme von deren emotionalem und positionalem Zusatznutzen" zu konstatieren sei (S. 104), kann man als allgemeine Trendaussage akzeptieren; ein halbwegs belesener Kulturanthropologe wird darin jedoch keine Besonderheit der modernen Gesellschaft erkennen können, sondern bestenfalls ein Indiz für das Wiederaufleben primitiver Güter- und Konsumrituale in der modernen Konsumgesellschaft. Die Besonderheit des modernen Konsums kommt erst in den Blick, wenn man die Individualisierung der Erlebnis- und Genußorientierung und die veränderten individuellen Selbstkonzepte berücksichtigt, die in den modernen Konsumpraktiken ausgelebt werden.

In den letzten beiden Abschnitten läßt die Verfasserin die vielfältigen sozio-ökonomischen Einflußfaktoren der Konsumrevolution im 18. Jh. Revue passieren und stellt einige sozial-psychologische Erklärungsansätze für die Entstehung des modernen Konsums vor. Als sozio-ökonomische Bedingungsfaktoren nennt sie das Bevölkerungswachstum, die Verstädterung, die Entstehung des Individualismus und die Säkularisierung in der Renaissance, die wissenschaftliche Revolution, den Protestantismus, die Ausdehnung der Handelsaktivitäten, die veränderten Einstellungen der Ökonomen gegenüber Import und Konsum, die Abnahme der verwandtschaftlichen Beziehungen und die Zunahme der vertikalen sozialen Mobilität zwischen den Klassen und Schichten (vgl. S. 132ff.). Für die Erklärung des modernen Konsumverhaltens macht die ökonomische Theorie vor allem das Status- und Prestigestreben geltend. In kritischer Ergänzung zu diesem Ansatz rekonstruiert die Verfasserin das Konzept des imaginativen Hedonismus von Colin Campbell, das auf die genußbringende und tagträumerische Dimension des modernen Konsumierens abhebt (vgl. S. 194ff.). Den Modellen des Homo oeconomicus und des Homo delectans stellt sie schließlich Erklärungsversuche zur Seite, die an der Konsumsymbolik bzw. an den Symbolwerten der Güter ansetzen. Im Anschluß an andere Autoren weist sie auf die expressiv-kommunikative und die identitätsbildende Funktion der Gütersymbolik hin. Güter sind in einen interkommunikativen und intrakommunikativen Prozeß eingebunden, wodurch sie alle möglichen Symbolwerte annehmen können. "Die Güterumwelt wirkt [...] unmittelbar auf unser Selbstbild ein und erfüllt neben der reflexiven auch eine produktive Funktion." (S. 209) Zur Überraschung des Rezensenten dient dieser wichtige Gedanke aber der Verfasserin nur dazu, den Übergang zur These von der kompensatorischen Funktion der Gütersymbolik herzustellen. Die Behauptung, daß die Güter verstärkt dazu verwendet würden, "intangible Eigenschaften darzustellen, die zwar erwünscht, aber nicht real vorhanden sind", mündet in die starke These, daß die "Hauptfunktion der Gütersymbolik [...] somit die Kompensation vermißter eigener Charakterzüge und eines damit einhergehenden Selbstwertes" geworden sei (S. 210). Unter konsequenter Ausblendung des weiten Funktionsspektrums der Gütersymbolik widmet sie sich dementsprechend auf den nachfolgenden Seiten ausführlich den pathologischen Formen des Konsums wie der Kaufsucht, der sich zirkulär verstärkenden Stimulus- und Gütergebundenheit und dem "sensation seeking" – alles Erscheinungsformen des kompensatorischen symbolischen Konsums, die die innere Leere und Selbstwertschwäche der Menschen pseudo-therapieren sollen. Die Verfasserin selbst bringt keine Daten zum Ausmaß des Kompensationskonsums und der Kaufsucht in der Konsumgesellschaft. Es soll hier keineswegs bestritten werden, daß es diese Phänomene gibt und sie vermutlich auf dem Vormarsch sind. Wenn aber nach einer empirischen Erhebung unter der Leitung von Gerhard Scherhorn aus dem Jahre 1991 "nur" 20% der Bevölkerung der Bundesrepublik deutlich kaufsuchtgefährdet und 5% stark kaufsuchtgefährdet sind, fragt man sich schon, warum der Schwerpunkt der Argumentation auf diesen Kauf- und Konsumverhaltensweisen liegt. In dem Abschnitt bricht eine konsumkulturkritische Grundhaltung der Verfasserin durch. Sie ist, wie der Appell an innere Werte und schöpferisches Tun, offenkundig immer noch ein Markenzeichen deutscher Arbeiten zur Konsumgesellschaft. Einmal mehr wird das "Vergnügen" in Anführungsstriche gesetzt und dem tiefen, erfüllten Glücksgefühl kontrastiert, "das durch aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt empfunden werden kann" (S. 226, Anm. 251). Damit verläßt Stihler den Boden der wissenschaftlichen Analyse und wird zur Propagandistin einer hochkulturellen Genuß- und Glücksethik.

Inhaltlich teilt die Studie die Schieflage vieler Konsumuntersuchungen zugunsten des Kauf- und Anschaffungsverhaltens und zuungunsten des Gebrauchs- und Nutzungsverhaltens: letzteres spielt im Buch nur eine untergeordnete Rolle. Den Schwerpunkt der Argumentation bilden allgemeine Trendbeschreibungen und Erklärungsansätze; die Darstellung der sozialen Differenziertheit moderner Konsummuster kommt zu kurz. Daß zahlreiche der präsentierten Thesen bis heute umstritten sind, wird von der Verfasserin nicht immer klar genug benannt. Die Informationsfülle und der leicht verständliche Stil empfehlen das Buch als Einführungslektüre zum Thema "moderner Konsum" und damit freilich auch einem Leserkreis, der vor dem luxuriösen Anschaffungspreis zurückschrecken dürfte.

Literatur

Stihler, Ariane (1998): Die Entstehung des modernen Konsums. Darstellung und Erklärungsansätze. Berlin: Duncker & Humblot.

Startseite

eXTReMe Tracker