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Henri Band

Die „Natur“ als Einzugsgebiet der Soziologie

Essay zu Matthias Groß: Natur. Bielefeld: transcript Verlag 2006. Reihe „Einsichten. Themen der Soziologie“

Erschienen in: Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal. 21. Jg. (2010) Heft 3, S. 171–179. Leicht ergänzt.

© Henri Band

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Die Soziologie ist ein sonderbares Fach. Von Zeit zu Zeit wird sie von heftigen Allzuständigkeits­fieberphantasien geschüttelt. Dann wiederum brechen massive Minderwertigkeitskomplexe auf, gepaart mit Selbstvorwürfen an die Zunft, man habe wichtige Entwicklungen verschlafen und Schlüsselfragen ignoriert, die längst schon in der Öffentlichkeit diskutiert und von anderen Wissenschaften erfolgreich bearbeitet werden. Manche soziologische Fachpublikationen erwecken bei einem naiven oder fachfremden Leser den Eindruck, die Disziplin pendele zwischen akademischem Tiefschlaf und halbblindem Aktivismus, verpasse häufig den Zug der Zeit, wisse bis heute nicht sicher, worin ihr Kanon an Gegenständen, Theorien und Methoden besteht, und fange gerade erst an, sich ihrer eigentlichen Aufgaben zu besinnen. Neben der relativen Kleinheit, um nicht zu sagen institutionellen Randständigkeit der Soziologie dürften die Auslegungsoffenheit, Komplexität und Politikrelevanz des eigenen Gegenstandsbereiches mit ursächlich für die kommunikative Anschluss-Panik sein, die unter Teilen der Fachvertreter von Zeit zu Zeit aufkommt. Die Annahme, dass Soziologinnen und Soziologen nichts Menschliches fremd zu sein habe, verführt manche von ihnen zur Suspendierung der Frage, was der spezifische Erkenntnishorizont einer Wissenschaft des Sozialen sein soll – allen guten Soziologie-Definitionen, die es gleichwohl gibt, zum Trotz.

Ein Themenbereich, der spätestens seit Ende der 1980er Jahre Teile der deutschen Soziologengemeinschaft in produktive Aufregung versetzt hat, war der Bereich der „Natur“. Sie mündete – u.a. über die Zwischenstufe eines Plenums zur „Soziologie der Natur“ auf dem Soziologentag in Dresden 1996 (Hradil 1997, S. 529ff.) – 2006 in einen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der unter dem bewusst doppeldeutigen Titel „Die Natur der Gesellschaft“ in Kassel stattfand (Rehberg 2008). Die gesellschaftliche Konjunktur der Natur-Thematik verdankt sich vor allem der ökologischen Krise. Sie hat aber zusätzliche Nahrung erhalten durch die rasanten Fortschritte der Naturwissenschaften und insbesondere der Lebenswissenschaften. Die technischen Eingriffsmöglichkeiten in Naturprozesse werden insbesondere auf der molekularen und molekularbiologischen Ebene noch einmal enorm zunehmen. Dadurch erweitern sich auch die Selbstmanipulations­möglichkeiten der menschlichen Natur. Die aus dem Garten Eden vertriebenen Menschen haben sich auf eigene Faust ins Paradies zurückgearbeitet, um nun auch vom Baum des Lebens zu essen, dessen Früchte ewiges Leben versprechen. Welche Gefährdungspotenziale, Risiken und soziale Folgen durch die Nutzung dieser Möglichkeiten mitproduziert werden, treibt die Debatten um (vgl. Weiß 2009; Knell/Weber 2009).

Wenn es um den Umgang der Soziologie mit der Naturproblematik geht, steht oft der Vorwurf eines disziplinären Defizits im Raum. Dieser Vorwurf an eine Wissenschaft, die erklärtermaßen keine Naturwissenschaft ist, sondern eine Wissenschaft vom Sozialen, entbehrt nicht einer gewissen theoretischen Pikanterie, die jedoch von jenen, die diesen Vorwurf vorbringen, häufig nicht bemerkt wird. Ihn könnte man mit der Gegenfrage kontern, was denn eine „Soziologie der Natur“ sein sollte – außer ein sprachlicher Lapsus. Stellt das Plädoyer für eine Soziologie, „die sich vom anthropozentrischen Paradigma verabschiedet, einen postessentialistischen Naturbegriff entwickelt und die disziplinäre Arbeitsteilung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften überprüft“ (Lemke 2008, S. 4175), nicht einfach nur einen Irrläufer dar, der längst von anderen Disziplinen bearbeitete und beantwortete Fragen an die falsche Fachwissenschaft adressiert und zum Teil auch in der eigenen Disziplin bereits weit offen stehende Türen einrennt? Leiden einige Soziologen und Soziologinnen vielleicht einfach nur an einem disziplinären Trennungs­phantomschmerz von der Natur?

Der Vorwurf einer konstitutiven Naturblindheit der Soziologie geht vor allem auf die amerikanischen Pioniere der Umweltsoziologie Riley E. Dunlap und William R. Catton zurück, den sie in mehreren Publikationen wiederholt haben. Sie unterstellen bereits der klassischen Soziologie eine Leugnung der gesellschaftlichen Naturbezüge, die in der Begründungslogik ihres Gegenstandsbereiches fundiert sei, und imaginieren einen soziozentrischen Sündenfall der Soziologie, der dann in der ganzen Disziplin in verhängnisvoller Weise Schule gemacht habe. „The Durkheimian legacy suggested that the physical environment should be ignored, while the Weberian legacy suggested that it could be ignored, for it was deemed unimportant in social life.“ (Dunlap/Catton 1983, S. 118) Obwohl sich diese Behauptung bei vorhandener Quellenkenntnis sehr leicht widerlegen lässt und sie ein eher elementares Verständnis vom Konnex zwischen naturaler Umwelt und sozialer Welt mit sich führt, hält sie sich gerade auch in deutschen Publikationen hartnäckig. Zu den wenigen deutschen Soziologen, die dieser Fundamentalkritik kompetent widersprochen haben, gehört Matthias Groß (schon in seiner lesenswerten Monographie zur Geschichte der Umweltsoziologie „Die Natur der Gesellschaft“ von 2001). In seinem Buch „Natur“ verweist er auf die unkritische Übernahme dieser Kritik in der deutschen Diskussion (Groß 2006, S. 96), die selbst erklärungsbedürftig ist. Es ist aber nicht allein mangelnde Kenntnis der Klassiker, die dieser Kritik Vorschub leistet, sondern ein zum Teil diffuses, zum Teil missionarisch überhöhtes Selbstverständnis von den Untersuchungsbereichen und Methoden der Soziologie. Es dürfte u.a. dieser Eindruck gewesen sein, der Groß dazu motiviert hat, dieses Buch zu schreiben.

Um dem Vorwurf der Naturblindheit der Soziologie zu begegnen, bieten sich zwei grundsätzliche Optionen an: Erstens kann man daran erinnern, dass bei einer Wissenschaft vom Sozialen viel gegen einen Logozentrismus und einen Physiozentrismus spricht, nichts aber gegen einen methodologischen Soziozentrismus und nur bedingt etwas gegen einen Anthropozentrismus (Groh/Groh 1996). Naturprozesse und Naturgrundlagen zieht eine solche Wissenschaft nur insoweit in Betracht, als sie tatsächlich die jeweils erforschten sozialen Phänomene miterklären können, es sich bei ihnen also um mehr als nur um nichttriviale Bedingungen der Möglichkeit von Sozialität handelt. Darüber hinaus ist für die Soziologie natürlich von Interesse, wie Wissen über Natur entsteht, zirkuliert und handlungsleitend wird. Zweitens kann man nachzuweisen versuchen, dass Naturbezüge, Naturphänomene und Naturvorstellungen in der Soziologie tatsächlich immer, implizit oder explizit, eine wichtige Rolle gespielt haben und weiter spielen. Die letztere Strategie hat Groß in seinem Buch „Natur“ gewählt. Sie ist erhellend und heikel zugleich.

Groß greift bei seiner Ehrenrettung der Soziologie auf die Metapher von den „Einzugsgebieten“ zurück. „Ein Einzugsgebiet ist hier zu verstehen als der Bereich, den die Mitglieder der Disziplin als das Feld ansehen, in dem sie Daten sammeln, aus dem sie Begriffe übernehmen, theoretische Versatzstücke herausbrechen oder Modelle borgen dürfen.“ (Groß 2006, S. 6) Die Soziologie hat sich zur Begründung ihrer Gegenstände immer auch auf Naturphänomene, Naturprozesse, Naturvorstellungen sowie das Wissen und die Methoden von Naturwissenschaften bezogen, sei es nun in abgrenzender oder in eingemeindender Absicht. Dieser wechselvollen Geschichte der Herausbildung, Festlegung, Veränderung und mehr oder weniger großen Überlappung von „Einzugsgebieten“ der Disziplin Soziologie geht Groß an exemplarischen Beispielen nach (vgl. für einen ähnlichen Ansatz Gill 1998, der von „Domänen“ spricht). Insofern versteht er sein Buch als „Überblick über 150 Jahre ‚Natur‘ in der Soziologie“. (S. 7)

Was Groß unter dieser Perspektive zusammenträgt kann tatsächlich den oberflächlichen Eindruck entkräften, in der Soziologie spielten Naturbezüge keinerlei Rolle. Es gab und gibt nicht nur eine Soziologie und ein Soziologieverständnis. In Kapitel II zeichnet er die Konjunkturen der Thematisierung einer „menschlichen Natur“ bzw. naturaler Aspekte von Verhaltensphänomenen in der Soziologie nach. Bereits Max Webers grundlegende Unterscheidung von Verhalten und sinnhaft orientiertem Handeln oder Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung von Kür- und Wesenwille stellen Versuche dar, Kriterien für die Validierung von Verhaltensmustern zu entwickeln, die durch Sozialisation bzw. soziale Lernprozesse und/oder durch aktuelle (soziale oder andere) Umwelteinflüsse bzw. Handlungskontexte und/oder durch biologische bzw. genetische Faktoren im Organismus bedingt oder mitbedingt sind. Der damit zwangsläufig inthronisierte Streit um die eher naturalen, sozialen oder mentalen Bestimmungsgründe der jeweiligen Verhaltensphänomene begleitet bis heute die Diskussion um die Relevanz der Erkenntnisse der Soziobiologie, der Genforschung, der Neurobiologie, der Geschlechterforschung, der Psychologie oder der Primatologie für die Soziologie. Dabei beharren längst nicht alle Soziologien auf einem strikt antinaturalistischen Standpunkt, wie Groß mit Verweis auf die Praxistheorie deutlich macht (S. 20).

Kapitel III geht der Geschichte der Adaptionen und partiellen Ablösungsversuche von biologischen Organizismuskonzepten und Evolutionstheorien in der Soziologie nach, die von Herbert Spencer über Emile Durkheim bis zu Niklas Luhmann und der Weltsystemforschung für die Modellierung von komplexen Gesellschaften und ihrer als mehr oder weniger „naturwüchsig“ begriffenen Wandlungsprozesse eine wichtige erkenntnisleitende Rolle gespielt haben. Kapitel IV und V skizzieren anhand amerikanischer Debatten die Überlappungsbereiche, Absetzungsversuche und Kooperationen zwischen der Soziologie auf der einen sowie der Geographie und Ökologie auf der anderen Seite, die zur Ausdifferenzierung verschiedener human- und sozialökologischer Ansätze der Erforschung von (Stadt-)Gesellschaften und ihrer Umweltbeziehungen führten. Im Mittelpunkt von Kapitel VI stehen Impulse einer Reintegration von nichtmenschlichen Naturentitäten und Artefakten in Akteurskonzeptionen, die von der Wissenschaftssoziologie, der Technikforschung und der Akteur-Netzwerk-Theorie Michel Callons und Bruno Latours ausgingen, die im Übrigen besser als Aktanten-Netzwerke-Ethnografie oder Aktanten-Netzwerke-Narratologie zu bezeichnen wäre. Sie bescherten den Sozialwissenschaften einen Hype um Hybride und Cyborgs, den Groß aber bereits am Abklingen wähnt. Das VII. und letzte Kapitel gibt schließlich einen Überblick über die Geschichte und Leistung von umweltsoziologischen Ansätzen, die sich in Reaktion auf die ökologische Krise um die Integration von ökosystemischen Perspektiven in die Soziologie bemühen, und stellt kurz neuere Arbeits- und Themenfelder der Umweltsoziologie vor.

Matthias Goß’ geschulter Blick auf die reichen Traditionsbestände der Soziologie hebt seine Studie wohltuend von der Sündenfalllyrik und Selbstkasteiungsprosa ab, in die soziologische Publikationen zur Umwelt- und Naturproblematik mitunter verfallen. Sie markiert kenntnisreich das disziplinengeschichtliche Terrain und wissenschaftliche Minimalniveau, auf dem sich eine Soziologie menschlicher Naturverhältnisse zu bewegen hat, die nicht nur politische, normative oder kritische Anliegen verfolgen und umweltpolitischen oder antinaturalistischen Programmen zum Durchbruch verhelfen möchte. Angesichts dieser Vielfalt an Bezugnahmen, Überschneidungen, Annäherungs- und Distanzierungsbemühungen, Wissens- und Modelltransfers zwischen den Soziologien und anderen Wissenschaften hinsichtlich der Einbeziehung von Naturentitäten, Naturvorstellungen und naturalen Mechanismen zur Beschreibung und Erklärung von sozialen Phänomenen erweist sich die vom Autor aus den Arbeiten von Karl-Werner Brand, Fritz Reusswig u.a. adaptierte und in vielen Darstellungen verbreitete Typologie der möglichen Relationierungen von Gesellschaft und Natur und der entsprechenden Naturverständnisse in der Soziologie jedoch als zu grob (S. 99). Die Unterscheidung von Realismus/Naturalismus, Soziozentrismus/Kulturalismus/Sozialkonstruktivismus und dialektischer/integrativer Perspektive folgt zu offensichtlich der verführerischen Eigenlogik der immer noch beliebten Dreier-Schemata und räumt der dialektischen Sichtweise von vornherein einen epistemologischen Überlegenheitsbonus ein, der in der Sache nicht immer gerechtfertigt sein muss.[1] Der Ruf nach integrativen Perspektiven kann das inzwischen erreichte theoretische Differenzierungsvermögen der Sozialwissenschaften durchaus unterfordern oder sogar durch die Produktion von dialektischen Leerformeln und Hybridbegriffen trüben, wie Groß an einigen Stellen mit Blick auf die Akteur-Netzwerk-Theorie und ihre amüsanten Wortschöpfungen („Hudogledog“, ein „Mensch-Hundeleine-Hund“) unmissverständlich durchblicken lässt. Wenn er dann aber doch den Realismus bzw. Naturalismus und den Sozialkonstruktivismus zu zwei Lagern der umweltsoziologischen Forschungslandschaft stilisiert, deren Integration „die größte Herausforderung an die Soziologie“ darstelle (S. 100), erinnert das etwas an die rhetorische Strategie Latours, gefühlte Dualismen und Dichotomien zu imaginieren, wo keine sind, um ihnen den Kampf ansagen und die Akteur-Netzwerk-Theorie als Überwindung der Übereinkunft der Modernen präsentieren zu können.[2] Auch ein strikter Anti-Dualismus bzw. ein strikt gehandhabtes Symmetrieprinzip kann zum erkenntnishemmenden Dogma werden (Newton 2007, S. 35ff.; Shakespeare/Erickson 2000).

Dabei zeigt doch der Autor gleich im nachfolgenden Abschnitt, wie sehr sich die sogenannten Lager der Naturalisten und Konstruktivisten im Bereich der Umweltsoziologie überschneiden und Annahmen der Gegenseite durchaus adaptieren, jedenfalls wenn man sich nicht nur die programmatischen Äußerungen, sondern die praktischen Forschungsleistungen anschaut, die nicht so weit auseinander liegen, wie es die Paradigmen vermuten lassen. Theoretisch anstößiger aus soziologischer Sicht ist weniger die vermutete Lagerbildung zwischen „Materialisten“ und „Idealisten“ als die kommentarlos vollzogene Gleichsetzung von Kulturalismus, Soziozentrismus und Sozialkonstruktivismus, die ein kulturalistisches, symbolisch-sprachliches bzw. intellektualistisches Verständnis des Sozialen zum Konsens in der Soziologie erhebt.[3] Was Sozialkonstruktivismus sein soll, versteht sich aber nicht von selbst. Und Sozialkonstruktivismus ist nicht gleich Sozialkonstruktivismus (Hacking 1999, S. 39ff.). Am Streit um die Konzeptualisierung der symbolischen, materiellen, naturalen und mentalen Aspekte von Sozialität sowie der Konstitutions- und Wirkungslogik des Sozialen bzw. sozialer Beziehungen und Ordnungen scheiden sich die soziologischen Geister bis heute (am Beispiel von Durkheim siehe Terrier 2009). Ein ausgeprägter Antinaturalismus findet sich vor allem in postmodernistischen Varianten des Sozial(de)konstruktivismus, die das methodische Prinzip des Nachvollzuges der Konstitution von sozialen Ordnungen in Richtung eines politischen Emanzipations- und semantischen Dekonstruktionsprojektes radikalisiert haben und jede Referenz auf Naturales oder Objektives im Zusammenhang mit der Erklärung sozialer Phänomene mit dem Verdacht belegen, hier solle im Dienste der Aufrechterhaltung von (patriarchalen) Macht- und Herrschafts­verhältnissen sozial Kontingentes und Gewillkürtes qua Essentialisierung, Naturalisierung und Ontologisierung gegen Veränderung und Verfügbarmachung durch die Individuen immunisiert werden (dazu selbstkritisch Haraway 1995, S. 73ff.). Dabei sind es die Natur- und Technikwissenschaften selbst, die die Natur immer mehr ihrer Schicksalhaftigkeit, nicht jedoch ihrer Materialität für den Menschen entkleiden, mit dem bekannten Resultat, dass die politischen und Alltagskonflikte um die legitimen oder illegitimen Zwecke, Mittel und Folgen der Techniknutzung und Naturumgestaltung weiter zunehmen.

Eine gewisse sozialtheoretische Unstimmigkeit bzw. Inkonsequenz des Bandes zeigt sich auch in der Engführung des Soziologie-Verständnisses am Gesellschaftsbegriff, die fast das ganze Buch durchzieht. Groß behauptet hartnäckig „Gesellschaft“ als den Kernbegriff der Soziologie und Komplementärbegriff zu „Natur“. Ja, er geht sogar an verschiedenen Stellen so weit zu argumentieren, dass die Soziologie „Gesellschaft nur über den Bezug zu Natur verstehen“ könne und ohne die Gegenüberstellung von Gesellschaft und Natur nicht hätte entstehen können (Groß 2006, S. 5 und passim). Der Auseinandersetzung mit der Erklärungsressource Natur habe es bedurft, um das Fach zu erhalten und sein Selbstverständnis zu regenerieren, und dies werde auch in Zukunft so bleiben. Mit dem Fokus auf „Gesellschaft“ als dem zentralen Untersuchungsbereich der Soziologie bedient Groß jedoch ein populäres Verständnis von Soziologie, das von vielen Fachvertretern nicht geteilt wurde und wird. Selbst der von Groß als Hauptgewährsmann für diese Sicht herangezogene Durkheim, in dessen Denken sicherlich noch am stärksten der Gesellschaftsbegriff des 19. Jahrhunderts nachwirkt, hat die Soziologie „als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart“ definiert (Durkheim 1984, S. 100). Von Georg Simmel und Max Weber wurden massive und gewichtige Einwände gegen den Kompaktbegriff Gesellschaft vorgebracht. Man kann also eher sagen, dass die moderne Soziologie erst mit der Dekomposition des Gesellschaftsbegriffs einsetzt und erst durch die methodologische Entzauberung des Sozialen, d.h. die De-Transzendentalisierung sozialer Phänomene zur Wissenschaft reift. Damit die Soziologie auch hinsichtlich der Analyse gesellschaftlicher Naturverhältnisse leisten kann, was sie leisten sollte, bedarf sie qualifizierter Begriffe und Konzepte des Akteurs, des Handelns, des Sozialen bzw. des sozialen Systems, von denen ausgehend erst ein sinnvolles Verständnis von Gesellschaft bzw. Vergesellschaftung entwickelt werden kann. Dem Gesellschaftsbegriff haftet eine falsche Evidenz an, der aus sozialwissenschaftlicher Sicht gründlich zu misstrauen ist. Analoges gilt für den Begriff der Natur. Auch über den sind die Naturwissenschaften längst hinaus (siehe z.B. Jax 1999 selbst für die moderne Ökologie).

Gerade die fortschreitende Ausdifferenzierung und Aufsplitterung der gesellschaftlichen Sozial- und Naturbezüge und Wissensbestände sind ein zentraler Teil des Problems moderner Naturverhältnisse, der nicht hinreichend in den Blick kommt, wenn man an den Kompaktvorstellungen „Gesellschaft“ und „Natur“ festhält. Als pragmatische Referenzen spielen diese Platzhalterbegriffe natürlich in vielen Diskursen weiterhin eine wichtige Rolle, meinen dort aber in der Regel Kontextspezifisches (zu differenzierten Vorstellungen von Stadtnatur siehe Rink 2008); in den modernen Sozial- und Naturwissenschaften haben sie jedoch eine so weitgehende Entzauberung und analytische Dekonstruktion erfahren, dass diese Wissenschaften sogar ganz ohne diese beiden Begriffe auskommen könnten (für die Naturwissenschaften Knorr Cetina 2002). Von einer durchdringenden Entzauberung und Desymbolisierung der Natur in der Gesellschaft kann dennoch keine Rede sein (Eder 2008). Naturbilder gehören weiterhin zum zentralen Mythenbestand der Moderne. Als solche sozialen Tatsachen sind sie auch der soziologischen Analyse zugänglich.

Die Behauptung einer Komplementarität von Natur- und Gesellschaftsverständnis führt ebenfalls in die Irre. Die beiden Begriffe taugen nämlich logisch nicht wirklich als Gegenbegriffe. Die Geistesgeschichte weist zwar eine große Vielfalt möglicher Relationierungen von Natur und Gesellschaft auf. So unterscheiden William R. Freudenburg, Scott Frickel und Robert Gramling (1995) vier logische Möglichkeiten, wie die Beziehungen zwischen Umwelt/Natur und Gesellschaft gedacht werden können und gedacht wurden: analytical separation, analytical primacy, dualistic balance und conjoint constitution. Diese wären mindestens noch zu ergänzen um ontological primacy, dualistic bzw. ontological separation und holistic balance. Gleichwohl gibt es keine prinzipiellen Unterschiede zwischen der Natur und dem Sozialen und der naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisweise, die eine dichotome Gegenüberstellung von Natur und Sozialem bzw. Natur- und Sozialwissenschaften stichhaltig begründen könnten (Weber 1907). Auch Durkheims Grundsatz, soziale Tatbestände wie Dinge zu behandeln, unterläuft eine solche Dichotomisierung. Er reklamiert ein Wissenschaftsverständnis für die Soziologie, das sich an der Forschungspraxis der Aufdeckung von Naturgesetzen durch die Naturwissenschaften orientiert. Ihm geht es vor allem um die Ausweisung eines Bereiches des Sozialen als einer besonderen Entität bzw. einem besonderen Phänomenbereich neben den natural-materiellen Umweltgegebenheiten und neben den individuellen Phänomenen, der über eine Eigenlogik verfügt, Eigengesetzlichkeiten folgt und messbare Eigeneffekte zeitigt, die nicht aus physischen, biologischen oder psychischen Phänomenen restlos ableitbar sind (vgl. Durkheim 1900, besonders S. 171f.).[4] Der Bogen ließe sich bis zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme schlagen, die einer naturalistischen Epistemologie folgt und die in den neueren Naturwissenschaften entwickelte Theorie selbstreferentieller Systeme mit der modernen Evolutionstheorie verbindet. Eine Verkürzung der disziplinären Konstitutions­problematik der Soziologie auf die Abgrenzung zwischen Natur und Gesellschaft geht den Kritikern des Soziozentrismus bereits auf den Leim, weil es deren Soziologie-, Gesellschafts- und Naturverständnis hinnimmt, und lenkt von der eigentlich relevanten Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Soziologie ab: Der steht und fällt nicht allein mit einem spezifischen Gegenstandsbereich, dessen Konstruktion ihn deshalb noch nicht zu einem bloßen Konstrukt macht, sondern vor allem mit der Möglichkeit eines nomologischen Wissens von sozialen Phänomenen, Effekten und Prozessen. Insofern hat die Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft von einer „déformation professionelle“ (so Brand 1998, S. 24, zum soziozentrierten Blick der Soziologen auf die ökologische Problematik) weniger zu befürchten als von einer déformation politique, ganz gleich, ob es sich um eine ökologische Politik, eine Politik der Vernunft, eine Politik der Dinge oder eine Kosmopolitik handelt.[5]

Das Buch von Groß zeigt allerdings, dass sich Deutungen des Sozialen und Gesellschaftlichen auf Vorstellungen und Erkenntnisse von Natur, Natürlichem und Naturprozessen beziehen und beziehen können: Soziale Phänomene und Grenzphänomene des Sozialen wurden und werden in analogisierender oder abgrenzender Absicht auch unter Gesichtspunkten des (je spezifisch verstandenen) Naturhaften, Naturalen, Naturwüchsigen beschrieben, analysiert und erklärt, wenn es z.B. um die biosoziale Natur des Menschen, die Materialität von Institutionen und Infrastrukturen des Sozialen oder den nur bedingt steuerbaren und antizipierbaren Charakter von interdependenten sozialen Evolutionsprozessen geht. Dies galt lange Zeit auch in umgekehrter Richtung: Natur wurde in Anlehnung an menschliche Angelegenheiten zu deuten und zu erklären versucht. Noch Darwins Begriff der natürlichen Selektion ist in Analogie zur künstlichen Zuchtwahl bei Haustieren und Nutzpflanzen gebildet. Von offen anthropomorphisierenden Sichtweisen der Natur haben sich die Naturwissenschaften inzwischen weitgehend emanzipiert, was nicht ausschließt, dass kulturelle und normative Ideen in naturwissenschaftliche Modelle einfließen[6], reißerische Buchtitel solche Sichtweisen wieder heraufbeschwören („Das egoistische Gen“) und Naturwissenschaftler in der Praxis einen sozial anmutenden Umgang mit Theorien, Methoden, Gerätschaften, Objekten und Modellorganismen pflegen oder die von ihnen vermuteten oder gewünschten gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen ihrer Erkenntnisse öffentlich reflektieren.[7]

Natürlich kennt Groß nicht nur den Gesellschaftsbegriff und weiß um das Kernverständnis der Soziologie von Handlung, Kommunikation und Sozialem, und auch das Theorem der doppelten Kontingenz bleibt nicht unerwähnt. Durch sie zeichnet sich eine soziale Beziehung zwischen einem Alter und Ego aus, die wechselseitige Erwartungserwartungen hegen, welche sich gleichwohl nicht völlig decken und deshalb rekonstituiert und stabilisiert werden müssen. Sie kann auch im Verhältnis von Akteuren und Naturentitäten auftreten (Groß 2006, S. 92), wenn diese Entitäten von Alter als ein Ego erfahren werden bzw. ihnen ein Ego zugeschrieben wird, was geschichtlich verbreitet der Fall war (Luckmann 1994).[8] Gleichwohl scheint dem Autor ein soziologischer Purismus, der bei diesem Leisten bleiben möchte, nicht ganz geheuer, wenn er die Erweiterungen der Einzugsgebiete der Soziologie in die innere oder äußere Natur hinein als notwendige Reaktionen auf Rückzugstendenzen auf soziale Phänomene im strikten Sinne interpretiert (Groß 2006, S. 88). Bei näherer Betrachtung handelt es sich jedoch weniger um eine lineare Geschichte der Abfolge von Vereinseitigungen und notwendigen Korrekturen als um dauerhafte und altbekannte Reibungen, Anerkennungs- und Ressourcenkonflikte zwischen benachbarten und konkurrierenden Disziplinen und Paradigmen im sozialen Feld der Wissenschaften, um strukturale Effekte des akademischen Feldes also, die die Debatten stets von Neuem befeuern und am Laufen halten. Zu den politischen Spielen der symbolischen Kapitalbildung im Feld der Wissenschaften gehört die Rhetorik des Bruchs mit der Tradition, der Nachbardisziplin oder den Forscherkollegen, die noch die kleinsten Nachbarschaftsstreitigkeiten zu Richtungsentscheidungen aufwertet, wie die inzwischen inflationäre Ausrufung von „turns“ und „Wenden“ zu indizieren scheint.

Die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit eines reflektierten soziologischen Purismus kann den falschen Eindruck erwecken, das Wohl und Wehe der Soziologie im Bereich der Umweltforschung oder der Lebenswissenschaften hinge allein davon ab, wie viel oder wie wenig Platz sie der äußeren oder inneren Natur in ihren Modellen einräumt, kurz: dass Soziozentrismus und Sozialkonstruktivismus grundsätzlich doch verwerflich weil reduktionistisch seien (diesen Eindruck vermittelt z.B. Kropp 2002). Wenn diese Begründung zur Preisgabe soziologischer oder gar wissenschaftlicher Standards führt, wird der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Die Attitüde des Nichtreduktionismus taugt für den Entwurf von Kosmologien, nicht für die wissenschaftliche Arbeit. Die Weite oder Enge des Einzugsgebietes der Soziologie liefert noch kein valides Qualitätskriterium für die betreffende Forschung und ihre Ergebnisse. Das Kerngeschäft der Soziologie bleibt auch mit Blick auf die Naturthematik die Erforschung der kommunikativen und praktischen (Natur-)Verhältnisse und Beziehungen von Akteuren. Selbst wenn die Soziologie „puristisch“ dem Gebiet des Sozialen verpflichtet bleibt, kann sie wertvolle Beiträge zum Verstehen und zur Erklärung von gesellschaftlichen Naturverhältnissen liefern, indem sie der Konstitution von Erwartungserwartungen zwischen Akteuren hinsichtlich ihres Umgangs mit Naturentitäten nachgeht – sei es nun der äußeren Natur oder den Gegebenheiten der menschlichen Natur –, also der wissenschaftlichen, technischen und praktischen Erschließung, Nutzung, Ausbeutung, Veränderung oder Bewahrung von Naturentitäten und den sozialen Ordnungen von Naturverhältnissen (in Interaktionen, Organisationen, Funktionssystemen). Dabei kann und sollte sie die innergesellschaftlichen Grenzziehungsprozesse zwischen Sozialem und Naturalem mit zum Gegenstand der Untersuchungen machen.[9] Eine integrierende Perspektive bestände dann aus Sicht einer durchaus puristischen, aber interdisziplinär anschlussfähigen Soziologie darin, die sozialen Selbst- und naturalen Umweltbezüge von Akteuren in ihren jeweiligen institutionellen und lebensweltlichen Handlungskontexten zueinander in Beziehung zu setzen, also soziale Konstitutions- und politische Aushandlungsprozesse von praktischen Naturverhältnissen zu analysieren.[10] Um das zu leisten, muss sich die Soziologie nicht neu erfinden (Mayntz 2008). Sie sollte aber den vielfältigen Formen und Arenen der innergesellschaftlichen Verarbeitung der Naturverhältnisse und des immens wachsenden, aber für Nichtexperten zunehmend esoterisch werdenden Wissens über Naturprozesse mehr Aufmerksamkeit schenken.

Was mit diesem soziologischen Interesse an der Konstitution von Erwartungserwartungen gegenüber Naturentitäten gemeint ist, können abschließend die nachfolgenden zwei Fotografien zu virulenten Naturdiskursen und Praktiken des Umgangs mit Naturentitäten in modernen Gesellschaften illustrieren.

Kaffee enthält natürliche Antioxidantien

Kaffee-Werbung. Foto: Henri Band, Oktober 2008

Natur heißt auch Gefahr

Nationalpark-Schild. Foto: Henri Band, November 2008

Aus einer soziologischen Beobachterperspektive ist nicht beantwortbar, worin die Wirkungen von Radikalenfängern oder die Gefahrenpotenziale verwildernder Wälder bestehen bzw. ob diese Effekte in den Texten sachgemäß angesprochen werden. Verlockend und leitend ist für sie die Frage, warum Antioxidantien im Rahmen eines zellbiologischen Gesundheitsdiskurses so viel Aufmerksamkeit finden, dass sie von Herstellern von Kaffee als werbliche Botschaft und die Natürlichkeit ihrer Herkunft als Zusatzzusatznutzen kommuniziert werden können, und warum es in modernen Gesellschaften, die sich dem umfassenden Schutz vor Naturgefahren verschrieben haben, einer rechtlichen Belehrung von Besuchern von Nationalparks bedarf, dass sie mögliche Folgeschäden eines Aufenthalts in einem nichtdomestizierten und nichtberäumten Waldbestand selbst zu tragen haben.[11] Bereits diese Beispiele, denen man unzählige weitere zur Seite stellen könnte, untermauern den Eindruck, dass mit der Ausdehnung des Zugriffes auf Natur und ihrer Zurichtung für menschliche Zwecke die Diskurse und Konflikte um Denaturierungs- und Renaturierungsprozesse zunehmen und der Rechtfertigungs- wie der Regulierungsaufwand sowohl für Eingriffe als auch für Nicht-Eingriffe in die Natur weiter steigen. Diese sozialen und politischen Auseinandersetzungen von Akteuren um Natur bilden eine Domäne der Soziologie.

Literatur

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[1] Für eine relativ differenzierte Darstellung der Debatte vgl. Lidskog 2001; für den Versuch einer Verteidigung des Sozialkonstruktivismus Kneer 2009.

[2] Diese Philosophenschelte erinnert an die Invektiven von Karl Marx und Friedrich Engels gegen Bruno Bauer und seine Rede über die „Gegensätze in Natur und Geschichte“ – „als ob das zwei voneinander getrennte ‚Dinge‘ seien, der Mensch nicht immer eine geschichtliche Natur und eine natürliche Geschichte vor sich habe“. Der Verwandlung des Verhältnisses des Menschen zur Natur in ein tiefsinniges philosophisches Problem halten sie das empirische Faktum entgegen, „daß die vielberühmte ‚Einheit des Menschen mit der Natur‘ in der Industrie von jeher bestanden [...] hat“, wenn auch in jeder Epoche jeweils anders und in anderen Extensionsgraden (Marx/Engels 1845/46, S. 43). Das hat sinnsuchende Menschen nicht davon abgehalten, ihre Gattung oder einen auserwählten Teil von ihr als aparte Schöpfung zu imaginieren, weil angenehme Wahrheiten ein betörendes Gefühl der Selbstwerterhöhung wecken können. Nur eine intelligente und exzentrische, d.h. eine hypersoziale Spezies kann zur Einbildung gelangen, keine Naturentität, sondern eine Art Übernatur zu sein.

[3] Für einen stark kulturalistischen Ansatz siehe Eder 1988; Kritik am diskursiven und quasimentalistischen Bias der Soziologie üben Hirschauer 2008 und Lindemann 2008.

[4] Durkheims Insistieren auf dem überindividuellen Dingcharakter sozialer Tatsachen und des Kollektivbewusstseins erklärt die paradoxe Tatsache, dass sein Ansatz nicht nur des Soziozentrismus, sondern auch des Naturalismus geziehen wurde. Die modernen Naturwissenschaften haben seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts das klassische Verständnis von körperlichen Dingen erschüttert und der Praxis der technisch kontrollierten Erzeugung, Beobachtung und Messung von Phänomenen und Effekten den Weg bereitet (vgl. Bachelard 1993). Auf der Grundlage des durch technische Geräte experimentell hergestellten physikalischen, chemischen und biologischen Tiefenwissens über Phänomene und Effekte wurde es möglich, Dinge zu konstruieren, die bis dahin nur von Phantasten für möglich gehaltene Eigenschaften zeigen und Handlungen erlauben. Der Dinge werden deshalb, wie der Naturentitäten, nicht weniger, sondern immer mehr. Sie werden Teil eines immens anwachsenden Baukastens. Die kommunikative Selbstverzauberung der Menschen durch neue Techno- und Soziofakte lässt die Aufmerksamkeitskurve für bloße Natur weiter abfallen. Um so aufdringlicher und indiskreter werden die Dinge und technischen Systeme selbst. Sie errichten ein smartes Gehäuse der digitalen Hörigkeit und Geschwätzigkeit. Ihrer datensensorischen und ‑verarbeitenden Funktionalität nach sind sie prädestinierte Überwachungssysteme. Weshalb die Freiheit ein prekäres Gut bleibt. Sie erhält eine neue Facette als Freiheit vom kategorischen Vernetzungsimperativ, von der permanenten digitalen Kopräsenz.

[5] Damit soll selbstredend keineswegs insinuiert werden, die Politisierung von Naturverhältnissen sei etwas Verwerfliches. Sie ist eine soziale Tatsache und als solche wert, erforscht zu werden. Auf Engagement kann nicht verzichtet werden, soll sich in der Realität und nicht nur in Diskursen etwas ändern. Aber es schickt sich nicht für die Soziologie als Wissenschaft, aus Freude an der Einmischung in gesellschaftliche Angelegenheiten oder Sorge um die Naturzerstörung nur Kritik zu üben und Direktiven zu erteilen. Eine Soziologie der Naturverhältnisse kann jedoch untersuchen, wie und warum welche Akteure Verhältnisse zur Natur und Vorgänge in der Natur erfolgreich politisieren können oder damit scheitern – und warum es gleichwohl weiter wachsende Zonen des exzentrischen, indifferenten oder instrumentellen Umgangs mit Naturentitäten gibt. Gerade die Ausweitung der Verfügbarkeitsansprüche von Politik, Ökonomie und Wissenschaft über Natur erschwert die Begründung und Durchsetzung von Nutzungsbeschränkungen. Die Tiefenoperationalisierung von Natur als atomares und molekulares Geschehen und dessen Simulierbarkeit eröffnen immer neue Nutzungshorizonte und lassen Naturästhetiker zunehmend altromantisch aussehen. Alles nur von Natur aus Daseiende wird von Erwartungen belagert, der menschliche Möglichkeitssinn drängt in Richtung einer wunscherfüllenden Natur. Das zeigt bereits ein Blick in ein neuzeitliches Garten-Center mit Heimzoo-Abteilung. Inzwischen gibt es schon die ersten Do-It-Yourself-Kits für kleine und große Biohacker, die Lust auf mehr Gentechnik für alle machen sollen. Demokratisierung der Wissenschaften heißt das kreationistische Mantra der DNA-Bastler – als ob wir den digitalen Hackern und Virenbastlern nicht schon genug uneinholbare Probleme zu verdanken hätten. Vielleicht werden wir uns in nicht allzuferner Zukunft auch noch vor Bio-Malware und Heimlabor-Viren schützen müssen. Nur hilft es dann nicht mehr, im Zweifelsfall den Stecker zu ziehen. Dem Bildungseifer der Humanisten, Posthumanisten und Transhumanisten ist jedes Gewährenlassen von Natur suspekt. Um dem irgendwo Grenzen zu setzen, muss das Verfügbare freiwillig unverfügbar gehalten werden. Das kann als fortschrittsfeindliches Verwertungsverbot kritisiert oder als Kränkung des antiessentialistisch gestimmten Größenselbst empfunden werden. Über den eigenen produktivistischen und narzisstischen Schatten zu springen, ist kein Vorschlag, der auf eine breite Akzeptanz rechnen darf.

[6] Am Beispiel des Streites zwischen konträren Auffassungen von Biodiversität Kirchhoff/Haider 2009.

[7] Vgl. die vieldiskutierten Memoranden von Befürwortern des Neuro-Enhancement in „Nature“ und „Gehirn & Geist“; Greely u.a. 2008; Galert u.a. 2009.

[8] Für einen Überblick über die zahlreichen praktischen Kosmologien, die menschliche und nichtmenschliche Wesen als soziale Personen verstehen und miteinander verknüpfen, und die ihnen korrespondierenden Welt-, Selbst- und Naturverhältnisse vgl. Descola 2013.

[9] Für eine soziologische Analyse der soziotechnischen Konstruktion von Leben und Tod in der modernen Intensivmedizin vgl. Lindemann 2002.

[10] Vgl. für eine solche Verknüpfung für nichtstaatliche Gesellschaften Helbling 1992; zum „social life of natures“ am Beispiel eines Berges Freudenburg/Frickel/Gramling 1995; zur Regulation der Naturverhältnisse am Beispiel der Biodiversität Görg 2003; zu lokalen Konflikten in einem und um einen Nationalpark Krauss 2008. Da es keinen verpflichtenden Soziologie-Kanon gibt, steht es natürlich jedem Soziologen frei, sein Untersuchungsfeld z.B. auf sozialökologische Zusammenhänge oder Stoffwechselprozesse zwischen natürlichen Umwelten und sozialen Systemen auszudehnen. Die Kritik richtet sich gegen eine Kritik an der Soziologie, die unterstellt, dass eine methodologische Beschränkung des Erklärungsanspruches auf soziale Phänomene und soziale Mechanismen den wissenschaftlichen Status der Disziplin grundlegend diskreditiere. Und sie ist an jene Soziologen gerichtet, die diese Selbstbeschränkung als falsche oder gar gefährliche Bescheidenheit abtun, weil sie den Superioritätsanspruch der Soziologie für alle Humanwissenschaften torpediere.

[11] Eine wahre Fundgrube mit hohem soziologischen Anregungspotenzial für die z.T. kafkaeske Realität moderner Naturverhältnisse sind die in der Zeitschrift „Natur und Recht“ berichteten und kommentierten juristischen Streitfälle und Gerichtsentscheidungen. Ein ungünstiges Schattenwurfgutachten kann das Schicksal eines wuchsfreudigen Baumes besiegeln. Das Betretungsrecht für die „freie Landschaft“ ist ein umkämpftes Gut.

Artikel zitieren

Druckfassung:
Band, Henri (2010): Die „Natur“ als Einzugsgebiet der Soziologie. In: Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal, 21(3), S. 171–179.

Online-Fassung:
Band, Henri (2013): Die „Natur“ als Einzugsgebiet der Soziologie. http://homepage.alice.de/henri.band/natsoz.htm. Zugegriffen: ...

 

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