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Henri Band

Zwischen Ostalgie und Selbstbehauptung

Über ostdeutsche Konsumwenden und die Renaissance der Ostprodukte

Erschienen in: vorgänge 163. Zeitschrift für Bürgerrechte und Politik. 42. Jg. (2003) Heft 3, S. 110-116. Leicht verändert.

© Henri Band

Es gibt Kinofilme, die Wellen bis in das Alltags- und Konsumverhalten ihrer Zuschauer hinein schlagen. Ein solcher Film war "Good Bye, Lenin!" von Wolfgang Becker. Über 5,5 Millionen Menschen haben den Streifen gesehen, und bei nicht wenigen, vor allem ostdeutschen Besuchern hatte er Folgen für Leib und Leben: er verstärkte den Appetit auf all jene Ostprodukte, die in dem Film der Aufrechterhaltung der Fiktion einer intakten DDR gegenüber der schwerkranken Mutter dienen. Seit "Good Bye, Lenin!" in den Kinos läuft, verbuchen Internethändler, die Ostprodukte vertreiben, erneut kräftige Umsatzzuwächse. In den Städten der neuen Bundesländer erfreuen sich Ostprodukteläden und Ostproduktemessen eines regen Zulaufes. Selbst in den alten Bundesländern wurden die ersten Spezialläden für Produkte aus dem Osten eröffnet, um das Heimweh der zugewanderten Ostdeutschen zu lindern.

Fall und Auferstehung ostdeutscher Markenprodukte

Ostprodukte und Ostmarken sind auf dem Vormarsch, und das nicht nur im Osten. Einige ostdeutsche Unternehmen haben den Sprung in die Bundesliga gesamtdeutscher Markenhersteller geschafft. Die Freyburger Sektkellerei, Produzent des bekannten Rotkäppchen-Sektes, expandiert erfolgreich in den Westen und stieg dank des Zukaufes von Mumm, MM und der Premiummarke Geldermann zum führenden Sekthersteller Deutschlands auf. Die zweitgrößte deutsche Brauerei-Gruppe Binding übernahm im letzten Jahr den ostdeutschen Markennamen Radeberger, um sich auf dem hart umkämpften nationalen und internationalen Biermarkt besser zu platzieren. (vgl. als Überblick Biermann 2002)

Von einem Durchmarsch ostdeutscher Produkte kann allerdings keine Rede sein. Der Aufstieg von Rotkäppchen und Radeberger in den Kreis der bekanntesten gesamtdeutschen Markenprodukte täuscht leicht darüber hinweg, dass die meisten Ostprodukte bislang "nur" zu alter lokaler Größe herangewachsen sind. Und dass es sich bei Rotkäppchen sogar um ein selbständiges Ostunternehmen handelt, noch dazu geleitet von einem ostdeutschen Unternehmer, ist ein Novum. Ganz ohne westdeutsche Finanzspritzen ging es auch in diesem Fall nicht.

Gleichwohl hat sich die Renaissance der Ostprodukte in den neuen Bundesländern zu einem nachhaltigen Trend verstetigt. Sie währt nunmehr schon über zehn Jahre, und ein Ende ist nicht abzusehen. Halberstädter Würstchen und Bautz'ner Senf, Hasseröder Bier und Spreewälder Gurken, Kathi und Komet, Burger Knäckebrot und Riesaer Nudeln, Nordhäuser Doppelkorn und Wilthener Goldkrone, Fit und Florena, Eg-Gü und Wittol – immer mehr aus der DDR bekannte Produkte und Marken haben ihre Spitzenplätze in der Gunst der Ostverbraucher zurückerobert. Bis in die jüngste Vergangenheit hinein sind Vorwendeerzeugnisse am ostdeutschen Markt neu eingeführt worden, mit einem zum Teil auch von den Herstellern nicht in diesem Umfang erwarteten Erfolg. Die Herkunft aus dem Osten erwies sich als Bonus, und das selbst bei Produkten, deren stofflicher Zusammensetzung man zu DDR-Zeiten nicht immer vorbehaltlos vertrauen konnte. Im Frühjahr 1997 kam Rondo Melange von Röstfein wieder in den Handel und stieg innerhalb kurzer Zeit zur drittstärksten Einzelmarke im ostdeutschen Kaffeemarkt auf. 1998 folgte die Bambina-Kinderschokolade und ein Jahr später die Schlagersüßtafel von Zetti, 1999 Nudossi, der Haselnuss-Nougat-Brotaufstrich, 2000 die legendären Pfeffi- und Zitro-Bonbons, 2001 die Apfelsinen- und Zitronenschnitten und 2002 die Brocken-Tröpfchen von Argenta.

Diese Auferstehung war nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft und dem Misstrauensvotum der Verbraucher gegenüber den Waren aus der DDR-Produktion nicht unbedingt zu erwarten. Mit der Währungsunion im Sommer 1990 setzte zunächst ein kollektiver Run auf die lang ersehnten Produkte aus dem Westen ein, die in jeder Hinsicht den einheimischen Erzeugnissen überlegen schienen. Westdeutsche Handelsketten und Anbieter nutzten die Gunst der massenkonsumseligen Stunde. Waren aus dem Osten verschwanden über Nacht fast vollständig aus den Regalen der Supermärkte. Die Neubundesbürger ließen ihrer angestauten Kauflust auf die schöne neue Warenwelt freien Lauf. Als Konsumenten trugen sie damit ihr Scherflein zum rasanten Niedergang der ostdeutschen Leichtindustrie bei.

Bereits ein Jahr später zeichnete sich jedoch ein Sinneswandel ab. Konsumerfahrung lehrte, was weder "Neues Deutschland" noch "Schwarzer Kanal" vermochten: Was aus dem Westen kam, war bunter, schöner, aber nicht unbedingt besser. Die Klage über den hohen Luftgehalt der Westbrötchen stand stellvertretend für manche Enttäuschung, die die Konsumgesellschaft bereithielt. Monate nach Öffnung der innerdeutschen Grenze erwiesen sich immer mehr Geschmacksgrenzen als unüberwindbar. Nachdem der Vereinigungstaumel abgeklungen war, begriffen sich viele Neubundesbürger zunehmend wieder als Ostdeutsche, mit einer eigenen Geschichte, eigenen Erfahrungen und einer eigenen Geschmacks- und Produktwelt.

Nahrungs- und Genussmittel gehören zu den anmutungsintensiven Gütern. Sie prägen die Vorlieben ihrer Konsumenten besonders nachhaltig. Es war daher kein Zufall, dass die Rückbesinnung auf einheimische Erzeugnisse am schnellsten bei Frischwaren einsetzte. Von dort griff sie auf andere Leib-und-Magen-Produkte über, die ein erhöhtes Suchtpotential bergen: auf Zigaretten, alkoholische Getränke und – mit einiger Verzögerung – auf Süßigkeiten. Die großen Tabakkonzerne wie Philip Morris und Reemtsma, die die Zigarettenwerke der DDR und ihre Marken aufgekauft hatten, gehörten zu den ersten Unternehmen, denen eine Lektion in ostdeutscher Produkt- und Markentreue erteilt wurde. Ihre produktive Kapitulation vor dem Geschmack der Ostraucher wurde zum Startschuss für die kollektive Wiederentdeckung der Qualitäten der einheimischen Vorwendeerzeugnisse. (Gries 1994)

Von dem Sinneswandel einer wachsenden Zahl ostdeutscher Verbraucher konnten allerdings nur jene Firmen profitieren, die den Nachwendeumsatzeinbruch überstanden und sich den neuen marktwirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst hatten. Investitionen in Millionenhöhe waren notwendig, um bei Qualität, Verpackung und Preis mit den Westprodukten konkurrieren zu können und den mafiosen Kampf um die Listung in den großen Supermarktketten zu bestehen. Wie Studien des Institutes für Marktforschung in Leipzig belegen, ist das Preisbewusstsein der Konsumenten in den neuen Ländern deutlich ausgeprägter als in den alten Bundesländern. Die erfolgreich vermarkteten Ostprodukte bewegen sich zumeist im unteren oder mittleren Preissegment. Wenn der Preis stimmt, kommt bei vielen Konsumenten ein erstarktes Ostmarkenbewusstsein zum Zuge. Den Unternehmen, die über attraktive Marken verfügen, beschert es Umsatzzuwächse nicht selten sogar im zweistelligen Bereich und sagenhafte regionale Marktanteile von über 40 Prozent.

Der neue Appetit der Ostdeutschen auf die alten einheimischen Produkte ist nicht einfach nur physiologischer Natur, sondern folgt einem unstillbaren sozialen und kommunikativen Bedürfnis. Geschmack verbindet – die Menschen untereinander, die ihn teilen, und die Menschen mit ihrer eigenen Lebensgeschichte. Konsumgüter sind mehr als die Summe ihrer Gebrauchswerteigenschaften. Sie sind Träger vielfältiger Bedeutungen, die ihnen nicht nur von Produzenten, Designern und Werbern verliehen werden, sondern durch die Konsumenten selbst. Deren Gebrauchsweisen und Zuschreibungen bestimmen den Bedeutungshorizont der Produkte maßgeblich mit. In den individuellen Geschichten des Gebrauchs setzen Dinge soziale Patina an. Die aus der DDR bekannten Produkte erfreuen sich deshalb so großer Beliebtheit, weil sie Teil einer lebendigen Erinnerungskultur geworden sind. Sie erzählen Geschichte und machen Geschichte erzählbar. Die Menschen hängen an ihnen, so wie sie an den Menschen hängen. Davon legen die Gästebücher auf den Webseiten der Herstellerfirmen und Internetanbieter von Ostprodukten ein beredtes Zeugnis ab. Es bedurfte offensichtlich einer Karenzzeit, um den Neubundesbürgern bewusst zu machen, dass diese Produkte Teil ihrer Lebensgeschichten sind, die man nicht dem Vergessen preisgeben sollte.

Markt und Marketing der Ostprodukte

Das Schicksal der Ostprodukte nach der Wende ist ein Spiegel des Vereinigungsprozesses und der wechselvollen Gemütslage der Ostdeutschen. Die erste Hälfte der neunziger Jahre war die hohe Zeit der "bekennenden Ostmarken", wie sie der Historiker Rainer Gries nennt, der die Geschichte der Ostprodukte vor und nach der Wende erforscht hat. (Gries 2003: 11-51) In Gestaltung und Werbung strichen sie ihre Herkunft demonstrativ heraus und sparten nicht mit Seitenhieben auf die westdeutsche Geschmackskultur. "Hurra, ich lebe noch!" (Club Cola), "Der Geschmack bleibt" (f 6), "Unparfümiert und unverfälscht" (Cabinet), "Ostdeutsch, daher gut" (Rundfunk- und Fernsehtechnik Staßfurt) – so lauteten die markigen Sprüche, die an den trotzigen Selbstbehauptungswillen der von Vereinigung und Einheitsgeschmack enttäuschten Neubundesbürger appellierten.

Inzwischen folgen die Marketing- und Werbeabteilungen anderen Kommunikationsstrategien. (vgl. Hennecke 1999) Die heute am Markt erfolgreichen Produkte tragen nur noch selten ein Ost- oder gar DDR-Image zur Schau. Ausnahmen bestätigen die Regel: Auf dem 400-Gramm-Becher von Nudossi prangt das alte Delikat-Logo und der Hinweis auf die Agra-Auszeichnung für die Produktkreation. Die meisten Hersteller zitieren in Packung, Aufmachung und Geschmack das Urvertraute in modernisierter Form. Das führt gelegentlich dazu, dass Puristen die geschmackliche Authentizität der Produkte vehement in Zweifel ziehen. Vor allem Süßwaren haben eine partielle Geschmacks- und Konsistenzwessifizierung erfahren. In der Regel wird das von den Konsumenten toleriert und geschätzt, solange die kommunikative Authentizität der Produkte nicht darunter leidet. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass so manches Ostmarkenbild von westdeutschen Marketingexperten mitprofiliert wurde und einige echte Ostprodukte, wie zum Beispiel die Pfeffi- und Zitro-Bonbons, heute in den alten Bundesländern hergestellt werden.

Was bei älteren Konsumenten Erinnerungen weckt, kann bei jüngeren Kultstatus erlangen. Nicht wenige Ostprodukte reiten auf der jugendkulturellen Retro-Welle mit, die Stile der 60er bis 80er Jahre recycelt und Gefallen am Trashigen gefunden hat. Mancher Jugendliche greift zum Malzkaffee-Extrakt "im nu", weil die Dose in ihrer Aufmachung unbeirrt an der popartigen Weltfestspielästhetik der frühen 70er Jahre festhält. Und wo das Auge mitisst, kann man gegebenenfalls aus der Not der Unförmigkeit eine Tugend machen: Selbstbewusst preist Zetti auf seiner Homepage die Knusperflocke als die "hässlichste Praline der Welt".

In der Regel werben heute die Produkte mit regionalen, länderspezifischen und historischen Bezügen, die oft weit in die Vergangenheit zurückreichen. Bei der Mehrheit der Erzeugnisse handelt es sich ohnehin nicht um DDR-Marken im eigentlichen Sinne, sondern um Traditionsmarken aus der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 40 Jahre DDR haben aber am Image der Marken und bei den Kunden tiefe Spuren hinterlassen. Die Waldheim Cosmetic GmbH, die 1920 die Marke Florena angemeldet hat, feierte im letzten Jahr ihr 150. Firmenjubiläum, allerdings nun als Tochterfirma der Beiersdorf AG, dem Hersteller von Nivea. Die Erfolgsgeschichten von Rotkäppchen und Radeberger begannen ebenfalls im 19. Jahrhundert, und der Produzent der beliebten Halloren-Kugeln setzt auf seinen Nimbus als Deutschlands älteste Schokoladenfabrik. Auffällig viele Erfolgsprodukte stammen aus Firmen, die erst während der Enteignungswelle 1972 verstaatlicht wurden. Ihren Nachwendeerfolg verdanken diese Firmen nicht zuletzt der Tatsache, dass sie schon zu DDR-Zeiten großen Wert auf die Qualität und das Markenimage ihrer Erzeugnisse legten und gegen alle ökonomischen und konsumpolitischen Widrigkeiten der sozialistischen Mangelwirtschaft zu wahren versuchten. Nur jene Produkte konnten nach der Wende wieder Fuß fassen, die ihr Markenkapital nicht zu DDR-Zeiten verspielt hatten, sondern schon damals aus dem grauen Einerlei des Standardkonsumangebotes herausragten und deshalb häufig zur Bückware zählten.

Um mehr als nur die alten Stammkunden wiederzugewinnen, können die Betriebe allerdings nicht langfristig auf den Ostbonus ihrer Produkte setzen. Er bietet ein Zeitfenster, mehr nicht. Der Kult- und Erinnerungswert der Ostklassiker wird eines Tages verblassen. Die meisten Firmen sind daher ständig auf der Suche nach Produktinnovationen, um ihre Produktpalette zu erweitern, neue Kunden zu gewinnen und alte noch stärker an die Marke zu binden. So ruht sich die Köstritzer Brauerei nicht auf ihrem in Ost und West gleichermaßen beliebten Schwarzbier aus, sondern versucht, mit neuen Getränkekreationen wie bipop, einem Schwarzbier-Cola-Mix mit Guaraná, und Volt, einem Vodka-flavoured-Energydrink-Bier, neue, vor allem jugendliche Verbraucher zu gewinnen. Und die Röstfein GmbH aus Magdeburg hat neben den Klassikern Rondo und Melange längst andere Kaffeemischungen wie Cappuccino, Espresso oder Bio-Kaffee auf den Markt gebracht. Wie groß die Erzeugnispalette der Unternehmen mitunter heute ist, wissen selbst viele Ostdeutsche nicht, denn in den Supermärkten findet sich meist nur ein lückenhaftes Angebot.

Die Unternehmen sind auch aus ökonomischen Gründen zu weiterer Expansion verdammt, wenn sie überleben wollen. Sonst ergeht es ihnen wie den meisten mittelständischen Ostbetrieben: als Tochtergesellschaften von Westkonzernen bedienen sie nur Nischenmärkte, mit der stets drohenden Gefahr, abgewickelt zu werden, sobald die Märkte nichts mehr hergeben. Selbst die meisten erfolgreichen Ostfirmen sind längst zu Ablegern von Westkonzernen geworden, um die eigene Kapitalbasis zu stärken und in westliche Vertriebsnetze einzudringen. Zuletzt hat es Florena und Wernesgrüner getroffen. Die meisten Übernahmeunternehmen wissen aber inzwischen, dass sich die Bewahrung der ostdeutschen Markeneigenständigkeit bei der Erschließung der Märkte in Ostdeutschland und Osteuropa in barer Münze auszahlt. Diese Entwicklungen bestätigen nur das Funktionsprinzip des postmodernen Markenkapitalismus im Konsumgüterbereich: ökonomische Konzentration, Angleichung der Qualitätsstandards und Produktdifferenzierung unter starken Dachmarken gehen Hand in Hand.

Gerade auf gesättigten Märkten genießen gestandene Marken einen großen Marktvorteil gegenüber Neueinsteigern. Viele Erzeugnisse in der DDR wurden im Zuge von Sortimentsbereinigungen und der Bildung von Kombinaten zu Monopolisten in ihrem Produktsegment. Das erweist sich heute als wertvolles Markenkapital. Bekanntestes Beispiel einer aus dieser Monopolsituation erwachsenden Identifizierung eines Produkts und seines Namens mit einem ganzen Produktsegment ist zweifelsohne Fit, das bis heute vielen Ostdeutschen als Inbegriff von Geschirrspülmittel gilt und – neben Rotkäppchen, Spee und Florena – zu den bekanntesten Markenprodukten in den neuen Bundesländern gehört. Seine starke Markenverwurzelung im Osten hat es der Fit GmbH im sächsischen Hirschfelde nicht nur ermöglicht, der auch ostzulande sehr bekannten klangvollen Westkonkurrenz Pril zu trotzen, sondern mit Rei und Sanso namhafte Westmarken hinzuzukaufen.

Konsumprodukte als Identitätsstützen und Heimatspender

Die Wiederkehr der Ostprodukte birgt eine erstaunliche wie allgemeingültige Lektion über die Langlebigkeit des Produkt- und Markengedächtnisses von Konsumenten, über den engen Zusammenhang von Produktbiographien und Lebensgeschichten. Besonders Markenprodukte werden durch ihre jahrzehntelange Präsenz am Markt und im Alltag zur Projektionsfläche und zum Mitgestalter basaler Normen und Werte des gesellschaftlichen Lebens. In einer komplexen Welt stiften sie Vertrauen. Die hohe Konstanz des Markenbildes von Erfolgsprodukten folgt nicht nur einem marketingtechnischen Kalkül, sondern dem Verlangen der Konsumenten nach verlässlichen Produktqualitäten sowie nach Kontinuität und Sicherheit in ihrem eigenen Leben, nach Bestätigung ihrer Identität durch die Identität vertrauter Produkte. Die Wahl bestimmter Marken war und ist immer auch eine Frage der Weltanschauung (Tippach-Schneider 2001) und dient der Markierung von sozialen und regionalen Zugehörigkeiten.

Auf der Suche nach den Gründen für die anhaltende Renaissance der Ostprodukte war schnell das inflationär gebrauchte Schlagwort von der Ostalgie zur Hand, mit dem jeder positive Bezug auf Hinterlassenschaften der DDR-Vergangenheit belegt wird. DDR-Nostalgie im engeren Sinne findet sich aber heute nur noch bei jenen Vertretern der Aufbaugeneration, die sich mit dem Staat der DDR und seinem Sozialismus identifiziert haben. Für die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen spielen ostalgische Regungen im Sinne eines verklärten Wunsches nach Rückkehr zu den alten Verhältnissen keine Rolle mehr. (vgl. Ahbe 1999; Woderich 2000) Wer Halberstädter Würstchen mit Bautz'ner Senf bestellt, möchte nicht die DDR als Sättigungsbeilage dazu. Die Rückbesinnung der Ostdeutschen auf Ostprodukte ist Teil einer mal ernsten, mal spielerisch-ironischen Identifikation mit der eigenen Geschichte, Herkunft und Region, in der es nicht wie im Film "Good Bye, Lenin!" um die Heraufbeschwörung der sozialistischen Vergangenheit oder gar um eine Wiederabgrenzung gegenüber dem Westen geht, sondern um Selbstfindung und Selbstermächtigung in der Gegenwart. Gerade Zeiten des Umbruchs und des radikalen sozialen Wandels, wie sie Ostdeutschland in den letzten Jahren erlebt hat und noch erlebt, schüren die bewusste Tradierung von Lebensmustern im Alltag. Der Rekurs auf Zeichen und Gegenstände, die bewahrenswerte Momente der gemeinsamen Lebens- und Konsumgeschichte repräsentieren und Verbindendes stiften, stützt das angekratzte Selbstwertgefühl. Konsumprodukte fungieren aber nicht nur als Erinnerungshilfe und Identitätsstütze, sondern auch als Heimatspender. Sie "erheben den Anspruch, 'Heimat' zu sein, und Konsumenten erheben den Anspruch, mithilfe von Produkten 'Heimat' zu erleben", so Rainer Gries (2003: 30). Den Dingen und seinem Geschmack treu zu bleiben, heißt auch, sich selbst und seiner Herkunft treu zu bleiben. Eine rigorose Wegwerfmentalität entwurzelt nicht zuletzt den Wegwerfenden. Auch der Autor dieser Zeilen mutiert zum fundamentalistischen Thüringer, wenn es ans Eingemachte geht: Ein Frühstück mit einem anderen als dem Mühlhäuser Pflaumenmus? Undenkbar.

In den alten Bundesländern haben natürlich Konsumgüter die gleichen Funktionen. Auch dort hängen Produktbiographien und Lebensgeschichten enger zusammen, als uns Marketinggurus und Konsumkulturkritiker weismachen wollen. Auch dort fragen die Konsumenten eine Mischung von internationalen, nationalen und regionalen Produkten und Marken nach. Die Uhren und ihre Träger im Osten ticken zwar etwas anders, sind aber nach dem gleichen Prinzip gebaut. Eine kulinarisch flankierte ostdeutsche, thüringische oder sächsische Identität muss man so wenig beargwöhnen wie eine bayrische, die zu ihrer Pflege und Wartung der Weißwurst und des süßen Senfes bedarf. Der ostdeutsche Markenregionalismus ist Ausdruck eines neuen, aber keineswegs regressiven Regionalbewusstseins der Ostdeutschen, das sie in der föderalen Bundesrepublik nun endlich ausleben können. Wer das kritisiert, spielt sich (weiterhin) als Vormund auf. Konsum ist in Ost und West zum Movens einer postmodernen, weitgehend entpolitisierten und entideologisierten (Re-)Folklorisierung und (Re-)Regionalisierung von Lebensstilen geworden. (Siegrist 2001a, 2001b) Das Besondere in den neuen Bundesländern ist eigentlich nur, dass die Rückbesinnung der Ostdeutschen auf ostdeutsche Produkte, bedingt durch die historischen Ereignisse, kollektiv synchron und mitunter demonstrativ erfolgt und deshalb Züge einer sozialen Konsumbewegung angenommen hat.

Der Konsumpatriotismus der Ostdeutschen ist nicht rückwärtsgewandt, sondern Zeichen eines erstarkten gegenwartsbezogenen bürgerschaftlichen Engagements. Der bewusste Kauf einheimischer Produkte ist bei vielen ostdeutschen Verbrauchern moralisch motiviert, trägt aber nur selten gesinnungsethische Züge. Als verantwortungsethisches Tun mündiger Bürger ist er Hilfe zur Selbsthilfe, sozial wie ökonomisch. Hinter der Renaissance der Ostprodukte verbirgt sich weniger ein ostalgisches Gebaren, als ein Schritt hin zur Normalisierung des Konsumverhaltens in Ostdeutschland. Wirklich besorgniserregend wäre es, wenn die Bewohner der neuen Länder ihre einheimischen Produkte dauerhaft verschmähen würden. Wo sollen Arbeitsplätze im Osten herkommen, wenn dort nur andernorts hergestellte Produkte verbraucht werden? Wo der Stolz auf eine Region, die über keine Markenzeichen verfügt?

Im Food-Bereich erreicht der Marktanteil der Ostprodukte in einigen Regionen der neuen Bundesländer inzwischen 50 Prozent und mehr. In den alten Bundesländern dagegen liegt er immer noch bei wenigen Prozent. Aber das ist eine andere Geschichte.

Literatur

Ahbe, Thomas (1999): Ostalgie als Laienpraxis. Einordnung, Bedingungen, Funktion. In: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs, 10. Jg., Heft 3, S. 87-97.

Biermann, Dietmar (2002): Der Markt bleibt auf absehbare Zeit zweigeteilt. Nur wenigen Ostprodukten ist der Sprung in die Spitzengruppe der nationalen Marken gelungen. In: Lebensmittel Zeitung, Nr. 38 vom 20. 09. 2002, S. 76.

Fritz, Christiane (2003): Östlich, köstlich, gut. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13. 04. 2003, S. R5.

Gries, Rainer (1994): Der Geschmack der Heimat. Bausteine zu einer Mentalitätsgeschichte der Ostprodukte nach der Wende. In: Deutschland Archiv, 27. Jg., Heft 10, S. 1041-1058.

Gries, Rainer (2003): Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig.

Hennecke, Angelika (1999): Im Osten nichts Neues? Eine pragmalinguistisch-semiotische Analyse ausgewählter Werbeanzeigen für Ostprodukte im Zeitraum 1993 bis 1998. Frankfurt am Main u.a.

Institut für Marktforschung GmbH, Leipzig, Homepage: www.imleipzig.de.

Merkel, Ina (1999): Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln/Weimar/Wien.

Priddat, Birger P. (1998): Moralischer Konsum. 13 Lektionen über die Käuflichkeit. Stuttgart/Leipzig.

Schäfer, Matthias (2003): Pittiplatsch und Knusperflocken. DDR-Produkte erleben eine Renaissance. In: Neue Zürcher Zeitung vom 29. 04. 2003, S. 56.

Siegrist, Hannes (2001a): Regionalisierung im Medium des Konsums. In: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 11. Jg., Heft 1, S. 7-26.

Siegrist, Hannes (2001b): Konsum und Alltagskultur in den neuen Bundesländern. In: Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. (Hg.): Ungeschehene Geschichte. Bilanz nach 10 Jahren Deutscher Einheit. Schkeuditz, S. 91-109.

Super Illu/Super TV (Hg.) (1998-2002): MarkenRealitäten Ost 1-3. Im Internet unter: www.super-illu.de/media/studien.htm.

Tippach-Schneider, Simone (2001): Mit Bino gekocht und mit Maggi gewürzt. Markenbewusstsein als Weltanschauung. In: Christian Härtel/Petra Kabus (Hg.): Das Westpaket. Geschenksendung, keine Handelsware. 2. Aufl. Berlin, S. 137-151.

Woderich, Rudolf (2000): Allgegenwärtig, ungreifbar. Zur Entdeckung ostdeutscher Identitätsbildungen in Befunden der Umfrageforschung. In: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs, 11. Jg., Heft 3, S. 103-116.

 


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