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Henri Band

Rezension zu: Robert Schmidt: Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen

Rezension erschienen in: Berliner Debatte INITIAL. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal. 14. Jg. (2003) Heft 4/5, S. 208-210. Leicht verändert.

© Henri Band

"Nur in einem gesunden Körper kann ein Geist unbemerkt wohnen", schrieb Siegfried Kracauer 1926. Solche feinsinnigen Verbalinjurien an die Adresse von Sport- und Körperkulttreibenden sind dem Gesellschaftskritiker heute verwehrt. Körperkultur und Sport sind zu einem Mittelschichtphänomen sui generis geworden. Bewegung gilt als erste Bürgerpflicht. In zeitgemäßem Idiom lautet der kategorische Imperativ "Move Your Body", und zwar öffentlich: "Zeig Deine Moves". Männliche Akademiker, einst die Ruhe in Person, zelebrieren Marathonlaufen und Bergsteigen als physisches und mentales Ausdauertraining. Gebildete Frauen wollen immerzu tanzen, möglichst gehoben-leidenschaftlich, also Tango oder Salsa. Ein Hochschulabschluß schützt längst nicht mehr vor einer Mitgliedschaft in einem Fitneßcenter. Wenn man die falschen Freunde hat, bekommt man ein Club-Abonnement geschenkt. Wer jung ist und als jung gelten will, zeigt Körper satt. Enthüllt, gebräunt, trainiert, durchchoreographiert, geliftet, epiliert, gepierct und tätowiert soll er weniger für sich selber sprechen als unsere erotische und berufliche Vitalität bezeugen, die auch am eigenen Leib als Zurückdrängung von Natur im Namen eingebildeter und assimilierter Kulturmodelle zelebriert wird. Es gilt, das gefühlte Renteneintrittsalter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuschieben. Das körpervergessene Couch-Potato-Dasein ist zu einem angefeindeten Privileg der Unterschichten geworden. Denn die Faulen, Trägen und Dicken gefährden den Fitneßstandort Deutschland und die für dringend geboten gehaltene Erneuerung der protestantischen Restethik aus dem Geist des Sports.

Die Konjunktur des Körperlichen hat seit einigen Jahren auch die Sozialwissenschaften erreicht. Die Soziologie des Körpers konnte sich aus ihrer anfänglichen Engführung einer Subdisziplin der Sportsoziologie oder der Geschlechterforschung befreien und als eine eigenständige Forschungsrichtung etablieren. An körpersoziologischen Theorieentwürfen und Zeitdiagnosen besteht inzwischen kein Mangel mehr. Was aber im deutschsprachigen Raum fehlt, sind empirisch gesättigte kultursoziologische Studien zu einzelnen modernen Körperphänomenen.

Das macht ethnologische Arbeiten wie die von Robert Schmidt so wichtig und verdienstvoll. Allgemeiner Gegenstand seiner Untersuchung ist die gegenwärtige Hybridisierung von Sport- und Popkultur. Durch den erlebnisgesellschaftlichen Körperboom, so die übergreifende These des Buches, beginnen sich die Grenzen zwischen den bislang geschiedenen Kulturbereichen des Sports und der Popkultur zu verwischen (S. 19). Im Zuge dieser Entwicklung bildet sich ein neuer kultureller Raum aus, "in dem sich die Spezifika beider Kulturbereiche zu hybriden, performativen popkulturell-sportlichen Kulturpraxen" verbinden (S. 68). Beispiele solcher hybriden Körperpraxen sind Trendsportarten wie Surfen, Inline Skating und Streetball, die popkulturell gewendete Gymnastikform Aerobic oder die Dancefloor-Genres mit ihren sportiven Tanzstilen. Ganz so neu, wie der Autor sie hinstellt, ist diese Entwicklung nicht, noch waren die beiden Kulturbereiche früher so "scharf" voneinander getrennt, wie er wiederholt unterstellt. Kracauer hat schon Mitte der zwanziger Jahre die seiner Ansicht nach illegitime Liaison von Sport und Unterhaltung, von Sport und Musik beklagt. Die Ausbreitung körperzentrierter Praxen und Inszenierungen hat aber zweifellos in der Erlebnisgesellschaft eine neue Qualität erreicht.

Im ersten, theoretischen und historischen Teil des Buches zeichnet der Autor die Veränderungen im Bereich des Sportes und der Popkultur in der Bundesrepublik nach, die der Konvergenz der beiden Praxisfelder den Weg ebnete. Die bis in die 70er Jahre anhaltende Dominanz des Wettkampf- und Vereinssportes wurde durch ein neues Modell präsentatorisch-inszenatorischer Sportlichkeit zurückgedrängt. Der Sport ästhetisiert sich zunehmend und geht Symbiosen mit der Mode und dem Freizeitkonsum ein (S. 31ff.). Gleichzeitig öffnet sich die Popkultur bzw. Popmusik gegenüber dem Sport. Die Disco-Welle Ende der 70er Jahre durchbricht die Hegemonie der noch recht introvertierten Rock-Kultur und bereitet den Siegeszug der Dancefloor-Genres vor (Techno, House, HipHop, Ragga, Dancehall, Jungle, Drum'n'Bass u.a.). Das Tanzen wird gegenüber dem Hören aufgewertet und das Publikum zum mimetischen Mitproduzenten der musikalischen Aufführung (mit Blick auf den Rock'n'Roll kann man auch sagen: "erneut"). Eine sportiv-performative Körperlichkeit hält im popkulturellen Raum Einzug (S. 54ff.). Die von einer "mediatisierten Oralität" geprägte Spielpraxis in der Popkultur zielt auf "die Erzeugung [...] genrespezifischer gemeinsamer Gefühle über gemeinschaftlich erlebte Körperzustände, die durch Körperbewegungen produziert und angezeigt werden" (S. 108). Diese und andere Entwicklungen führen zu einer allgemeinen Relevanzsteigerung des körperlichen Ausdrucksverhaltens im Alltag, das aber durchaus der sozialen Codierung in unterschiedliche Bewegungskulturen und Körpermodelle unterliegt.

Im zweiten, ethnographischen Teil der Untersuchung präsentiert der Autor die Ergebnisse seiner empirischen Feldstudie im Berliner Yaam Club. Bei dieser Lokalität handelt es sich weniger um einen Club im herkömmliche Sinne, sondern um eine auf den Sommer beschränkte sonntägliche Veranstaltung auf einem Freiluftgelände in Treptow, auf dem sich bis zu zweitausend BesucherInnen zu einer kulturellen Aufführung zusammenfinden. Diese Aufführung vereint popkulturelle (Reggae und HipHop, Deejaying und Tanzen) mit sportlichen Elementen (Streetball und Footbag) und bietet sich deshalb zum Detailstudium einer Variante der körperbasierten Hybridisierung von Musik und Sport an. Zugleich geht der Autor an diesem Fallbeispiel dem Zusammenhang von Körperpraxen und Szenevergemeinschaftung nach (S. 115f.).

Schmidt beschreibt zunächst das Gelände des Clubs, seine Entstehungsgeschichte und Organisationsform sowie die räumlichen, sozialen und zeitlichen Rahmungen, durch die sich der Club vom Alltag abgrenzt. In einem nächsten Schritt stellt er die den Club tragende und von ihm getragene Szene selbst vor sowie die sich dort im wahrsten Sinne des Wortes in Szene setzenden Stilfiguren. Sie umfassen u.a. afrikagereiste und gestylte Frauen, Ghetto-Gangsters, Blacks (afrikanische Einwanderer), Rastamen, HipHopper, Streetballer und Footbag-Spieler. Das Herzstück der ethnographischen Beschreibung bilden schließlich die kulturellen Elemente und Praxen, mittels derer sich in den sonntäglichen öffentlichen Aufführungen die körperlich-sinnliche Vergemeinschaftung der Szene vollzieht. Die zentralen Bestandteile der Inszenesetzung bilden die Musik (Reggae und HipHop), das Tanzen, das Deejaying und das Streetball-Spiel. Sie werden ergänzt durch ein stiladäquates Angebot an Ethno Food und exotischen Getränken sowie den Gebrauch szenetypischer Drogen (Marihuana) und feldspezifischer Idiome. Diese Praxen begründen zusammen einen szeneübergreifenden Bewegungsstil, der Elastizität und Bodenhaftung miteinander verbindet und das Ideal der Coolness körperlich zum Ausdruck bringt (S. 172ff.).

Besonders im Streetball, in der Musik und im Tanzen, aber auch in den anderen Praxen, kommt die szenetypische Leitorientierung "schwarze Kultur" zur Aufführung. Durch ein "acting black" stiften und bekräftigen die Akteure im Medium der Körperlichkeit den gemeinschaftsverbindenden und gemeinschaftsverbindlichen Glauben der Szene an diese Leitkultur (S. 244ff.). Sie kokettieren mit der Underground- und Ghetto-Ästhetik der Black Culture in ihren afrikanischen, afroamerikanischen und karibischen Varianten. Ihr Szenehandeln weist stark theatrale und präsentatorische Züge auf. Sie spielen gleichsam "Schwarz-Sein" und verwandeln auf diese Weise ein scheinbar askriptives Merkmal in eine auch von den nichtfarbigen Besuchern erwerbbare Eigenschaft bzw. in ein performatives Attribut. Doch auch neu nach Deutschland eingewanderte Afrikaner, die den Club aufsuchen, müssen sich an die im Club herrschende Vorstellung vom Schwarz-Sein durch Akkulturation anpassen, wenn sie als zur Szene zugehörig anerkannt werden wollen.

Der Vergemeinschaftungsprozeß der Yaam-Szene wird vor allem von den oben genannten körperlichen und performativen Praktiken getragen. Der Autor scheint allerdings im 4. Kapitel dazu zu neigen, im körperlich-performativen Vergemeinschaftungscharakter die differentia specifica der Sozialform Szene überhaupt zu sehen. Daran lassen sich mit Blick z.B. auf Computerszenen ernsthafte Zweifel anmelden. Eher scheint es so zu sein, daß sich Szenen eben auch darin unterscheiden, wie zentral körperlich-performative Praxen für den Vergemeinschaftungsprozeß sind.

In dem Vergemeinschaftungsprozeß der Szene vollzieht sich zugleich eine partielle Transformation der (Herkunfts-)Habitus der Akteure. Mit dieser These rückt der Autor kritisch vom Habituskonzept Pierre Bourdieus ab, dem er über weite Strecken seines Buches gefolgt ist. Bourdieu unterschätze zum einen die Möglichkeit der Habitusumbildung in den neuen freizeitkulturellen Praxiskontexten und zum anderen die in den pop- und sportkulturellen Praxen verborgenen Potentiale einer körperlichen Reflexivität. Gerade diese Praktiken weisen jedoch eine performative Seite der expliziten (Selbst-)Darstellungen und Präsentationen auf, die es systematisch zu berücksichtigen gilt. Im dramatologischen Ansatz Erving Goffmans wird dieser Aspekt allerdings wieder überzeichnet. Deshalb wählt der Autor einen konzeptionellen Mittelweg zwischen Bourdieu und Goffman. Der Yaam Club fungiert als ein eigens für die "gemeinsame körperliche Arbeit der Akteure an sich selbst" geschaffenes "Trainingsgelände", als Raum für "körperliches Probehandeln" (S. 275). Er ermöglicht und stimuliert Grenzüberschreitungen des habituell verankerten Körpergebrauchs und die Suche nach neuen Haltungen in Richtung des szeneeigenen Körpercodes. Die Attraktivität und Faszination vieler pop- und sportkultureller Praxisfelder besteht gerade darin, daß sie Spielräume für habituelle Umbildungsprozesse und Kontrasterfahrungen bereitstellen (S. 281f.). In ihnen werden also nicht einfach nur die Herkunfts- und Klassenhabitus der Akteure reproduziert. Allerdings geht der Verfasser nicht so weit, Orte des Freizeithandelns wie den Yaam Club zu Oasen einer von allen sozialen Zwängen freien und befreienden postmodernen Identitätskonstruktion zu verklären. Immer wieder verweist er auf soziale Prägungen und Zwänge, die auch dem Szenehandeln ihren Stempel aufdrücken. Die Yaam-Szene ist keine sozial exterritoriale Insel der Körperseligen. Sie bleibt sozialstrukturell lokalisierbar als Teil des hedonistischen Milieus und weist eine für Black-Culture-Szenen typische soziale Zusammensetzung und Binnenstruktur auf.

Wir haben es auch an diesen Orten der "freien" Selbstverwirklichung mit einem Zusammenspiel von langfristig wirkenden sozialen Strukturen und ihrem langsamen Umbau durch konkrete Handlungsstrategien und Erfahrungsprozesse der Akteure zu tun. Die Habitustransformationen haben "nicht per se emanzipatorische Auswirkungen". Sie stellen, wie das Beispiel der Yaam-Szene deutlich machen sollte, soziale Einpassungs- und Anpassungsleistungen dar, die aber zugleich für die Individuen "immer auch neue Spielräume eröffnen und Freiheitsgrade realisieren" können (S. 286).

Um die wirkliche Macht oder Ohnmacht dieser körperkulturellen Freizeitpraktiken zur Umcodierung von Haltungen ermessen zu können, wäre es jedoch notwendig, die Szeneakteure über einen längeren Zeitraum durch ihren ganzen Alltag hindurch zu begleiten. Die Untersuchung beschränkt sich aber weitgehend, wie der Autor einräumt, auf die sonntäglichen Geschehnisse im Yaam Club. Nur durch eine stärkere Berücksichtigung des Verhaltens der Akteure außerhalb der Szene-Treffen und eine Langzeitbeobachtung der Entwicklung von Habitusformen ließe sich feststellen, ob die Habitustransformationen wirklich auch auf den (Berufs-)Alltag übergreifen oder ob sie nur einen kompensatorischen, freizeitkulturell und temporär begrenzten Charakter haben. Ein solcher Forschungsaufwand kann allerdings von einem einzelnen Soziologen nicht erwartet werden, ganz abgesehen von den forschungspraktischen Problemen, die ein solches Herangehen aufwerfen würde.

Die ethnographische Studie Schmidts besticht durch die Fülle an genauen Beobachtungen und ihre nüchterne Sicht auf die Szene. Die wiederholt eingestreuten Bezüge auf Emile Durkheims Religionssoziologie wirken dagegen etwas bemüht und nicht sehr überzeugend. Die Plausibilität der religionssoziologischen Deutung der Yaam-Szene verdankt sich vor allem der konzeptionellen Schwäche der Durkheimschen Religionssoziologie: In ihr erscheint die soziale Natur des Menschen als religiöse Natur und dementsprechend alle Kollektivphänomene wenn nicht als religiös so doch als quasireligiös. Als geeigneterer Gewährsmann unter den soziologischen Klassikern hätte sich m.E. Georg Simmel mit seinen Überlegungen zu Spielformen der Vergesellschaftung angeboten.

Die Untersuchung ist erfreulich frei vom derzeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften grassierenden Identitätsjargon. Das will etwas heißen bei diesem Gegenstand, der voller identitätstheologischer Mucken und Versuchungen steckt. Die soziographische Aufmerksamkeit für das körperliche Geschehen im Club und das leibliche Erleben der Akteure bewahrt den Verfasser davor, die symbolischen und verbalen Aspekte der Selbstschau und Selbstzurschaustellung der Akteure für die Quintessenz ihres Handelns zu halten. Man kann sich nur wünschen, daß der Autor der soziologischen Erkundung moderner Körperphänomene und der ethnographischen Methode die Treue hält.

Literatur

Schmidt, Robert (2002): Pop – Sport – Kultur. Praxisformen körperlicher Aufführungen. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

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