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Henri Band

Produkte und Politik

Rezension von: Rainer Gries: Produkte & Politik. Zur Kultur- und Politikgeschichte der Produktkommunikation. Unter Mitarbeit von Barbara Gartner. Wien: WUV 2006. Erschienen in: H-Soz-u-Kult, 16.10.2008. Leicht erweitert.

© Henri Band

In Wohlstandsgesellschaften ist Konsum ein Politikum. Das Steigen oder Fallen des nationalen Konsumklimaindex wird in den Hauptnachrichten vermeldet und provoziert öffentliche Debatten. Hinter der apolitischen, omnipositiven Oberflächenästhetik der modernen Warenwelt haust die Sorge, dass wir zu wenig oder zu viel, zu sparsam oder zu ungerecht, nicht konjunkturfördernd oder nachhaltig genug konsumieren. Konsum kann politisieren oder politisch instrumentalisiert werden, Politik greift regulierend in die Konsumverhältnisse ein oder inszeniert sich selbst als Markenprodukt. Jörn Lamla hat in einem Beitrag zum Sammelband „Politisierter Konsum – konsumierte Politik“ das Untersuchungsfeld einer politischen Soziologie des Konsum abgesteckt. Es reicht von explizit oder implizit politisch motivierten Konsumpraktiken, sozio-politischen Konsumbewegungen, der Verbraucher(schutz)politik über das Einsickern konsumistischer Denk- und Verhaltensweisen in die Kommunikationsformen von Protestbewegungen, Politikern und Wählern, die Aneignung und Umcodierung von (protest)politischen Symbolen durch die kommerzielle Warenkommunikation bis hin zum Konzept des Bürger-Konsumenten bzw. Konsumenten-Bürgers.[1]

Das Buch „Produkte & Medien“ von Rainer Gries greift einen Teilbereich aus dem Spektrum der Beziehungen zwischen Konsum und Politik heraus: die explizite Politisierung und implizite politische Bedeutung von Produkten und Produktkommunikationen. Als (erschwingliches) Studienbuch für Studierende konzipiert, fasst es frühere werbe- und produktgeschichtliche Forschungen des Autors unter einer veränderten Fragestellung zusammen.[2]

Gries plädiert in der Studie dafür, „Produktkommunikation als ein Phänomen nicht nur der Kultur des Wirtschaftens, des Konsumierens und der Alltagskultur, sondern auch der politischen Kultur zu verstehen.“ (S. 48) Die politische Dimension der Ästhetik und Kommunikation von Produkten kann in verschiedener Weise in Erscheinung treten: Produkte können „von oben“ explizit oder implizit mit politischen Aussagen versehen werden. Mitunter werden sie aber auch „von unten“ mit (von den Produzenten nicht intendierten) politischen Bedeutungen aufgeladen. Darüber hinaus können Produkte, denen keine ausdrücklichen politischen Botschaften zugeschrieben werden, eine politische Tiefendimension aufweisen, indem sie Vertrautheit und Vertrauen schaffen: nicht nur zum Produkt, sondern auch zu Gesellschaft und Staat. (S. 44f.) Diese untergründige, politisch relevante Legitimation der Wirtschafts- und Sozialordnung leisten vor allem erfolgreiche, langfristig am Markt und im Alltag präsente Markenprodukte.

Gries konzentriert sich auf exemplarische Entwicklungen und Produktkommunikationen in Deutschland und Österreich seit dem 19. Jahrhundert. Im ersten Kapitel entwirft er sein Modell der mehrdimensionalen Produktkommunikation, der zwei produktkommunikativen Revolutionen in der Moderne und der Grundformen expliziter politischer Produktanmutungen und impliziter politischer Bedeutungen von Markenprodukten. Kapitel zwei geht unter der Überschrift „Politik und Propaganda“ politisierten Formen der Produktkommunikation und Werbung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nach. Schwerpunkt bildet die ideologische und institutionelle Konvergenz von Wirtschaftswerbung und politischer Propaganda in der Zeit des Austrofaschismus und Nationalsozialismus. Das dritte Kapitel skizziert anhand von Produkt-Geschichten aus der Bundesrepublik und der DDR die kommunikativen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Im vierten und letzten Kapitel kommt Gries schließlich ausführlicher auf die vertrauens- und gruppenstiftende Leistung von Markenprodukten und deren implizite politische Bedeutung zurück.

Das Buch durchziehen zwei miteinander verknüpfte historische Entwicklungsthesen. Die Präsentations- und Vermarktungsgeschichte von Konsumgütern zeichnet sich zunächst durch zwei produktkommunikative Revolutionen aus: Auf die im 19. Jahrhundert im Zuge der Nationalisierung der Märkte beginnende Herausbildung des modernen Marken- und Reklamewesens als einer intermediären Instanz (erste Revolution) folgte nach dem Zweiten Weltkrieg die Wandlung von Produkten zu Medien ihrer selbst (zweite Revolution), die vor allem durch die Umstellung der Verkaufskultur auf Selbstbedienung und den Siegeszug der Bildmedien induziert wurde. Zugleich macht Gries im 20. Jahrhundert einen langfristigen Trend zur „Entpolitisierung der Produkterzählungen“ aus, der sich aus der Etablierung der Markenprodukte und Markenwerbung als einer eigenen Mediengattung mit spezifischen kommunikativen Mustern im System der modernen Medien erkläre. Sowohl bei den Konsumenten als auch bei den Produzenten und Werbetreibenden setzte sich die Erwartung durch, dass Markenprodukte „keine ausdrücklich politischen Aussagen transportieren sollten“ (S. 118).

Dies galt in dieser Form natürlich nicht für die DDR. Dennoch war der Grad der Steuerung und der Politisierung der Warenkommunikation[3] dort nicht so stark, wie man es von einer durchherrschten Gesellschaft erwarten würde. Wie die Warenpolitisierung im Sozialismus aussehen konnte, illustriert Gries durch drei Fall-Beispiele: der Kommunikationsgeschichte von synthetischen Stoffen, die im Rahmen des Chemieprogramms als Geschenke der Partei- und Staatsführung an das Volk inszeniert wurden („Präsent 20“); der Markengeschichte des „Nordhäuser Doppelkorns“, der für die bewusste politische Indifferenz und erfolgreiche Bewahrung der regionalen Identität eines Markenproduktes in einer zentralistischen Planwirtschaft durch einen Betrieb und seine Belegschaft steht; sowie der massiven Politisierung eines Produktes „von unten“ durch die Verbraucher während der Kaffeekrise 1977, als ihnen von Staats wegen ein minderwertiges Kaffeemischgetränk schmackhaft gemacht werden sollte („Erichs Krönung“). Gerade die Politisierung des Konsums von unten – als Dauerlamento über die Versorgungsmängel und als Vergleichsdiskurs zur Bundesrepublik – bildete ein zentrales Kennzeichen der Konsumkultur der DDR.

Das Kapitel über die DDR löst den Anspruch des Autors einer Berücksichtigung der wichtigsten Ebenen und Akteure der Produktkommunikation überzeugend ein. Das kann man vom Abschnitt über die Nachkriegsentwicklungen in Westdeutschland nicht sagen.[4] Gries beschränkt sich weitgehend auf die kollektive Nachkriegserfahrung der Wiederherstellung von Normalität und der Aussicht auf einen schnellen Wohlstandszuwachs durch die Wiederkehr bekannter Markenprodukte und „Friedenswaren“ in Friedensqualität.[5] Diese Schieflage scheint auch der These einer weitgehenden „Entpolitisierung der Produkterzählungen“ in der Konsumgesellschaft geschuldet zu sein. Für Markenplatzhirsche aus dem Genussmittel- und Kosmetik-Bereich und die Produktnarrationen der Hersteller und Werber mag dies stimmen. In der Geschichte der Bundesrepublik wurden jedoch in der Öffentlichkeit und „von unten“ immer wieder – u.a. im Zuge der Entstehung neuer sozialer und ökologischer Bewegungen, der Diskussionen um die Gesundheits- und Umweltgefährdungen durch Produkte, Verpackungen und Herstellungsverfahren sowie um einen verbesserten Verbraucherschutz – Repolitisierungen angestoßen, die die Hersteller zu Anpassungen ihrer Produkte und Produktkommunikationen nötigten und uns zahlreiche Produkt-Siegel bescherten, die als Politik-Plaketten konsumpolitische und moralische Überzeugungen signalisieren und das Verhalten der Marktakteure beeinflussen.

Das im Schlusskapitel zur vertrauensstiftenden Leistung von Markenprodukten herausgestellte Verlangen der Konsumenten nach Vertrautem und Bewährtem provoziert zudem die Frage, ob es sich dabei nur um eine zeitlich eingrenzbare Reaktion auf gesellschaftliche Krisen und Umbrüche handelt. Zum Beleg seiner These zieht Gries bezeichnenderweise zum einen die Renaissance der Ostprodukte nach der Wende heran, die keine parteipolitische, sondern eine lebensweltpolitische Äußerung der ostdeutschen Verbraucher darstellt, und zum anderen Briefe von Nivea-Konsumentinnen aus den 1950er Jahren, in denen Nivea für die wiedergewonnene Norm und Normalität im westdeutschen Alltag steht. Dieses durch besondere Krisenerfahrungen geschürte Bedürfnis nach Sicherheit und Kontinuität und die komplementäre Markenrhetorik des Bewährten lässt sich nicht ohne weiteres in die Gegenwart hinein verlängern. Die Angleichung der Produkt- und Qualitätsstandards[6], die Stärkung der Verbraucherrechte und das noch einmal deutlich gestiegene Konsumangebot verführen zur Untreue gegenüber einzelnen Produkten und Marken zugunsten eines generalisierten Systemvertrauens in die Segnungen der Konsumgesellschaft (das natürlich durch Fehlkäufe und Skandale erschüttert werden kann). Junge Verbraucher suchen weniger Sicherheit, als Risiken und Normabweichungen, auch im Konsum. Und eine wachsende Unterschicht erlebt auch die Konsumwelt als Ort der Deprivation, weil sie sich die sinn- und normstiftenden Produkte, Marken und Konsumpraktiken der Mitte versagen muss.

In Wohlstandsgesellschaften bleibt der Konsum auch jenseits expliziter politischer Botschaften eine politisch höchst voraussetzungsvolle und in seinen politischen Wirkungen heikle Angelegenheit. Die Kaffeekrise in der DDR[7] birgt eine Lektion, die für alle Massenkonsumgesellschaften Gültigkeit beanspruchen darf: Haben sich erst einmal Produkte und Konsumpraktiken allgemein durchgesetzt, werden sie zum Bestandteil eines als legitim beanspruchten Lebensstandards, von dessen Wahrung das Wohlbefinden und Systemvertrauen ganzer Bevölkerungsschichten abhängig ist. Einige Produkte symbolisieren diesen Standard und gelten daher als sakrosankt. Ein solches Produkt ist heute das Auto. Die Empörung über das Steigen der Benzinpreise, die Endlos-Diskussion über die Pendlerpauschale (die eigentlich „Zersiedlungsprämie“ heißen müsste) und die Rede von einem „Grundrecht auf Mobilität“ bezeugen, dass die Infragestellung eingelebter Konsum- und Lebensstandards auch in den westlichen Demokratien zu massiven politischen Unmutsäußerungen von unten führen kann.

Literatur

Gries, Rainer (2003): Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig.

Gries, Rainer (2006): Produkte & Politik. Zur Kultur- und Politikgeschichte der Produktkommunikation. Unter Mitarbeit von Barbara Gartner. Wien.

Lamla, Jörn (2006): Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Kritikmuster und Engagementformen im kulturellen Kapitalismus, in: Jörn Lamla; Sighard Neckel (Hrsg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Wiesbaden, S. 9–37

Sigmund, Monika (2015): Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten. Oldenbourg.



[1] Lamla, Jörn: Politisierter Konsum – konsumierte Politik. Kritikmuster und Engagementformen im kulturellen Kapitalismus, in: Jörn Lamla; Sighard Neckel (Hg.), Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesbaden 2006, S. 9–37, hier S. 12–18.

[2] Die meisten Passagen stammen aus: Rainer Gries: Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003. Dort finden sich auch die ausführlichen Quellenhinweise, auf die das Studienbuch verzichtet.

[3] Gries wählt den Ausdruck „Warenkommunikation“, weil der politökonomische Offizialdiskurs keine Produkte, sondern nur Waren gekannt habe. Den Begriff „Produktkommunikation“ reserviert er für jene Diskurse in der DDR, „die sich um und über Erzeugnisse aus der Bundesrepublik beziehungsweise ‚aus dem Westen‘ entfalteten.“ (S. 119) Hier sitzt der Autor der sehr speziellen Sichtweise von DDR-Binnenhandelsökonomen auf, denen von Berufs wegen alles zur Ware wurde. Die begriffliche Differenzierung zwischen Produkt und Ware war mit Berufung auf Marx’ Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert sowie Arbeits- und Verwertungsprozess konstitutiver Bestandteil der politischen Ökonomie des Sozialismus. Auch in der DDR haben die Menschen Waren gekauft und Produkte konsumiert.

[4] Das spiegelt sich bereits im unterschiedlichen Umfang der Kapitel wider: 7½ Seiten für die Entwicklung in Westdeutschland, 28½ Seiten für die Entwicklung in der DDR.

[5] Von einer ersten „Vergangenheitsbewältigung“ durch die „Wieder da!“-Produkte kann sicherlich nur in Anführungszeichen die Rede sein (S. 110). Tatsächlich begünstigte das Wirtschafts- und Konsumwunder nach der Währungsreform eine kollektive Vergangenheitssuspendierung.

[6] Gleichzeitig ist der Innovations- und Kostendruck in vielen Branchen so enorm geworden, dass auch große Markenhersteller nicht mehr vor schweren Pannen bei Produktentwicklungen und -einführungen gefeit sind.

[7] Anmerkung 2017: Zu den politischen Dimensionen des Kaffees in beiden deutschen Staaten gibt es jetzt die materialreiche Studie von Monika Sigmund: Genuss als Politikum. Kaffeekonsum in beiden deutschen Staaten, die auch auf die Kaffeekrise in der DDR eingeht.

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