Henri Band
Das Management der
Kunden
Zur Soziologie des
Shopping
Rezension von: Kai-Uwe Hellmann/Dominik Schrage (Hrsg.):
Das Management der Kunden. Studien zur Soziologie des Shopping. VS Verlag für
Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005.
Erschienen in: literaturkritik.de.
Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften. 6. Jg. (2006) Nr. 6
(Juni). Leicht verändert.
© Henri Band
Der Konsument gehört in der Marktgesellschaft zu den meistbeforschten und -hofierten Wesen. Von seiner Kaufbereitschaft hängt nicht nur das Wohl und Wehe von Unternehmen, sondern ganzer Volkswirtschaften ab. Das Begehren nach ökonomisch verwertbarem Wissen über ihn ist daher groß – so groß, dass Enttäuschungen vorprogrammiert sind. In regelmäßigen Abständen stimmen Marktforscher das Klagelied von der Unberechenbarkeit des Verbraucherverhaltens an, versinkt die Marketing- und Werbebranche in Selbstzweifeln. Diese Klage ist abwegig. Sie entspringt fordistischen Steuerungsphantasien, der Konsument möge sich so betragen, wie ihn die Rational-Choice-Theorie am Reißbrett entworfen hat.
Das Verbraucherverhalten ist tatsächlich unkalkulierbarer geworden, doch hat sich das die Konsumgesellschaft selbst eingebrockt. Wo der Kunde die Wahl hat, macht er davon Gebrauch. Wo Alternativen vorhanden sind, werden Überraschungen möglich. Je größer die Spielräume für Alternativentscheidungen sind, desto größer können diese Überraschungen ausfallen. Mit der Ausweitung der Konsumzone sinkt die Wahrscheinlichkeit der Voraussagbarkeit von Konsum- und Kaufentscheidungen. Es gibt zwar weiterhin Bedingungen für den Markterfolg von Produkten, aber keine Garantien mehr. Wo Erfolgsrezepte auftauchen, werden sie sofort kopiert und verlieren an kompetitiver Wirkungskraft.
Wirtschaftstheorien und Marketingkonzepte über das Konsumverhalten laufen immer dann ins Leere, wenn sie lebensweltfremd werden. Hier könnte die Soziologie Erkenntnishilfe leisten – wenn sie denn wollte. Im deutschsprachigen Raum hat sie das lange Zeit unterlassen, weil ihr das Thema Konsum unter ihrer kritischen Würde schien. In den letzten Jahren beginnt sich das dank der Initiative einer jüngeren Generation von Sozialwissenschaftlern zu ändern. Seit 2002 gibt es unter dem Dach der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Arbeitsgruppe „Konsumsoziologie“ um Kai-Uwe Hellmann und Dominik Schrage, die Tagungen organisiert und eine eigene Buchreihe unter dem Titel „Konsumsoziologie und Massenkultur“ herausgibt. Inzwischen darf man von einer Renaissance der deutschsprachigen Konsumsoziologie sprechen.
Der zweite Band der Reihe versammelt unter dem Titel „Das Management der Kunden“ Studien zur Soziologie des Shopping. In vier Blöcken gehen die Autoren jeweils von der Anbieter- und Nachfragerseite exemplarischen Aspekten des Einkaufens nach: der Kulturgeschichte der Konsumbauten in Deutschland und Russland, der Logik und Praxis der Selbstbedienung, der Planung und Nutzung von Einkaufszentren sowie dem Instore-Radio und dem Internethandel als aktuelle Formen der Virtualisierung des Shopping.
Die Autoren folgen der gebräuchlichen Unterscheidung zwischen Erlebnisshopping und Versorgungseinkauf. Beim Shopping handelt es sich um eine konsumorientierte Bewegung in Marktumgebungen mit der Möglichkeit, aber nicht der Pflicht zum Kauf von Waren und Dienstleistungen. Dabei kann es sich um eine räumlich-körperliche (in einer Shopping Mall) oder um eine virtuelle Bewegung (im Internet) handeln. In beiden Fällen ist sie zugleich eine mentale Flanerie durch das Reich der Konsummöglichkeiten. In Anlehnung Georg Simmels Idee sozialer Spielformen kann man daher das moderne Shopping als Spielform des Einkaufens definieren, die aus der Not der Unentschiedenheit im Überfluss eine Lust macht. (siehe am Beispiel der Koketterie – auch mit den Dingen – Simmel 1996, S. 276 f.)
Die entscheidende Epochenschwelle für die Herausbildung des modernen Shopping bildet die Einführung der Selbstbedienung, wie Stephan Voswinkel in seinem Beitrag zeigt. Ihr Siegeszug geht mit einer Revolution der Kommunikationsverhältnisse am Point of Sale einher. Durch die Entpersonalisierung der Kundenbeziehungen werden die Waren und die Verkaufsstätten zu Medien ihrer selbst (zu dieser Entwicklung siehe auch Gries 2003). Im selbsttätigen Umgang mit dem Warenangebot entdecken die Konsumenten die spielerischen und lustvollen Momente des Einkaufsbummels. Das entspannte Autonomieerleben wird zur Conditio sine qua non eines gelungenen Shoppingtrips.
Das erhebt den Kunden noch nicht zum Souverän. Seine Autonomie bleibt eine gerahmte und Ziel ausgeklügelter Steuerungsversuche. Mit der Selbstbedienung wandelt sich aber die Beeinflussungstechnik von der Überredung zum Kauf zur Verführung zum Konsum – durch Verpackung, Erotik, Unterhaltung, Spaß, Verwöhngesten und -aromen, Liebeserklärungen, Egoschmeicheleien, Appetithäppchen und eine Prise digitale, mit Photoshop geheilte Natur, kurz: durch eine anthropo- und soziozentrische Sinnen-Kultur. Ein mediengestütztes Regime der Erzeugung und Aufrechterhaltung von Attraktivität, Atmosphäre und Aufmerksamkeit wird etabliert, das den öffentlichen und privaten Raum durchdringt. Seine architektonische Verkörperung findet es in der Shopping Mall als Freizeit- und Konsumoase.
Der Zugewinn an Autonomie verlangt dem Kunden aber auch Eigenleistungen und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ab. Die Shoppinggesellschaft tendiert zu einer Überwachungsgesellschaft eigener Art. Erst durch den massiven Einsatz von Kontroll- und Sicherheitstechniken konnte der Anstieg der Ladendiebstähle gestoppt werden. Die Datenspuren, die die Verbraucher in der digitalisierten Ökonomie in wachsender Zahl hinterlassen, werden selbst zur begehrten Ware, um das Konsumentenverhalten zielgruppengenau ausforschen und beeinflussen zu können. Im Internet erlauben komplexe Algorithmen eine Instant-Personalisierung von Werbeanzeigen und Produktempfehlungen.
Die Shopping Mall ist in den 1980er Jahren zum Leitbild postmoderner Urbanisierung aufgestiegen. Während sich zunächst die Einkaufszentren in ihrer Gestaltung an den historisch gewachsenen Innenstädten Europas orientierten, wird heute der Ruf laut, die Innenstädte nach dem Modell von Shoppingcentern zu managen (Andreas Rieper). Immer mehr Städte und Gemeinden betreiben ihr touristisches Standortmarketing im Geiste von Mall- und Erlebnisparkentwicklern. Selbst die Natur wird inzwischen als semiurban erschlossenes Terrain für Outdoor-Events beworben.
Obwohl bei der Planung und dem Management von Shopping Malls nichts dem Zufall überlassen wird, schließt das eigensinnige und kreative Aneignungsweisen durch die Kunden und Kundinnen nicht aus. Ellen Bareis belegt in einer Fallstudie, dass die Malls Raum für eine Vielzahl sozialer und lokaler Situationen und Interaktionen bieten, die über kaufrelevante Aktivitäten hinausgehen, sonst funktionieren sie nicht. Die Besucher sind nicht nur Adressaten, sondern Mitakteure der Inszenierung: durch ihr Verhalten schaffen sie die Aura des Urbanen erst mit. Die Shoppingwelten und ihre Besucher ko-kreieren auf diese Weise Spielformen urbaner Geselligkeit, in deren Zentrum gleichwohl Kauf- und Konsumakte stehen sollen. Die Omnipositivität der Mall beruht allerdings auf der Exklusion all jener Facetten des städtischen Lebens, die das Konsumklima trüben könnten.
In ihrer Untersuchung von Praktiken der Informationsbeschaffung und des Einkaufens im virtuellen Raum gehen Jörn Lamla und Sven Jacob den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Internet- und Real-Life-Shopping nach. Die Konsumenten nutzen Internetmarktplätze auf differente Weise, angefangen von der Übertragung alltagspraktisch bewährter Konsumgewohnheiten auf das neue Medium bis hin zu anomischen Strategien der Ausnutzung anonymisierter Tauschbeziehungen zur persönlichen Vorteilsnahme. Gerade die abweichenden Verhaltensweisen von Nutzern und Anbietern verweisen ex negativo auf die nichtökonomischen Grundlagen ökonomischer Tauschbeziehungen, die auf den virtuellen Marktplätzen erst durchgesetzt werden müssen. Zu ihnen gehören alltagspraktische Fertigkeiten, Normen und Werte sowie Kontroll- und Sanktionsinstanzen. Internetmärkte bedürfen, wie alle Märkte, eines Mindestmaßes an (Selbst‑)Regulierung, wenn sie funktionieren sollen. Ihr Erfolg hängt maßgeblich davon ab, ob in diesen Tauschsystemen Vertrauen und Transparenz institutionalisiert werden können.
Die Beiträge des Sammelbandes sind immer dann instruktiv, wenn sie auf empirische Erhebungen zurückgreifen. Das Buch liefert kein marketingtechnisches Rezeptwissen, wenngleich Hinweise auf Erfolgsfaktoren z.B. von Shoppingcentern nicht fehlen. Vielmehr macht es deutlich, dass Shopping und Einkaufen nur in einem weitgesteckten kultursoziologischen Rahmen verstanden werden können.
Literatur
Gries, Rainer (2003): Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag.
Hellmann, Kai-Uwe/Schrage, Dominik (Hrsg.) (2005): Das Management der Kunden. Studien zur Soziologie des Shopping. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Simmel, Georg (1996): Die Koketterie. In: Georg Simmel, Gesamtausgabe Band 14 (S. 256–277). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.