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Henri Band

Rezension zu: Heike Solga: Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft?

Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR

Rezension erschienen in: Berliner Debatte INITIAL. Zeitschrift für sozialwissenschaftlichen Diskurs. 9. Jg. (1998) Heft 2/3, S. 244-246.

© Henri Band

Unter den zahlreichen Versuchen einer systemkritischen Analyse der Sozial- und Herrschaftsstruktur sozialistischer Gesellschaften findet sich auch eine weit in die Geschichte zurückreichende Traditionslinie marxistischer Dissidenz, die die vornehmlich für die Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entwickelte Klassen- und Gesellschaftstheorie von Karl Marx auf diese Gesellschaften selbst angewandt hat, um sie als solche zu entlarven, die ganz und im völligen Gegensatz zum transformatorischen Anspruch und propagierten Selbstbild in den Bahnen antagonistischer Klassen- und ausbeuterischer Herrschaftsverhältnisse verblieben. Um so mehr verwundert es, daß in den retrospektiven Deutungsversuchen der realsozialistischen Gesellschaften nach ihrem Zusammenbruch die Marxsche Gesellschaftstheorie – zumindest im deutschsprachigen Raum – keine prominente Rolle mehr zu spielen scheint, und dies auch und gerade bei Sozialwissenschaftlern, die aus der DDR stammen und als kompetente Kenner dieser Theorie gelten können. Diese Einschätzung war es wohl, die Heike Solga in ihrer beim Akademie Verlag erschienenen Dissertation "Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR" maßgeblich mitbewogen hat, die marxistische und neomarxistische Klassentheorie der Analyse von Ungleichheitsstrukturen in der DDR zugrundezulegen. Mit der dezidiert klassentheoretischen Fundierung ihrer Untersuchung stellt sie sich dem hohen Anspruch, nicht nur eine theoretisch tragfähige und empirisch gehaltvolle Analyse zentraler Ungleichheitsdimensionen der Sozialstruktur der DDR-Gesellschaft zu liefern, sondern auch die ungebrochene Attraktivität und Relevanz der marxistischen Klassenanalyse für die Erklärung und Beschreibung sozialer Ungleichheitsstrukturen einer Gesellschaft überhaupt nachweisen zu können.

Diesem Anliegen folgt die Autorin mit einer Konsequenz, die zugleich beeindruckt und irritiert. Namentlich im ersten, theoretischen Teil der Studie wird das grundbegriffliche Inventar der marxistischen und in Spuren auch leninistischen Klassenanalyse nahezu in terminologischer Reinkultur entfaltet, und auch Freunde von Grundwidersprüchen, Ableitungsverhältnissen und strukturellen Erklärungen dürften auf ihre Kosten kommen.

Solga geht von der sozialistischen Produktionsweise und den in ihr vorfindbaren Eigentumsformen aus, um daraus die Klassenlagen und die Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft abzuleiten. Als weiteres differenzierendes Kriterium zur Bestimmung der Klassenlagen dient die reale – und nicht die juristisch-fiktionale – (politische, ökonomische und/oder technokratische) Verfügungsgewalt der jeweiligen Berufsgruppen über die zentralen produktiven Ressourcen der Gesellschaft. In Anwendung dieses Modells präpariert die Autorin sieben reine und vier abgeleitete Klassenlagen bzw. Klassen heraus (vgl. die tabellarischen Übersichten S. 66 und 67), deren wechselvolles Schicksal im Verlauf der Geschichte der DDR in einem gesonderten Kapitel noch näher verfolgt wird. Die Klassenstruktur der DDR wird gemäß des unterschiedlichen Gewichts der Eigentumsformen durch zwei Grundklassen geprägt: Das dominante staatliche Eigentum konstituiert auf der einen Seite die Parteielite, die als faktische kollektive Besitzerin der Produktionsmittel und alleinige Inhaberin der redistributiven Macht die eigentlich herrschende Klasse bildet, und auf der anderen Seite die Arbeiterklasse, die auch in der DDR als "ausgebeutete Klasse" zu charakterisieren sei, da sie über die Verwendung des von ihr produzierten Mehrwertes nicht selbst bestimmen kann und von den ökonomischen und sozialen Zuwendungen der Parteielite abhängig bleibt. Nur in einem Punkt wird das Marxsche Klassenkonzept modifiziert: Aufgrund des in den staatssozialistischen Gesellschaften veränderten Primatverhältnisses zwischen Politik und Ökonomie ist die Distribution des Mehrwertes und damit die Klassentrennung und der Ausbeutungsmechanismus nicht marktökonomisch, sondern vor allem politisch über die Autoritätshierarchie der Parteiherrschaft vermittelt.

Die Charakterisierung der einzelnen Klassenlagen fällt leider eher dürftig aus. Die Autorin hält sich strikt an die vorgegebenen Kriterien der Klassifikation. Beim näheren Hinsehen erweisen sich die Klassenlagen als eine typologische Mixtur aus Eigentums-, Funktions- und Berufsklassen. Über die typische Chance der Güterversorgung, der äußeren Lebensstellung und des inneren Lebensschicksals (Max Weber) erfährt man so gut wie nichts, ja diese Aspekte werden sogar bewußt ausgeklammert. Statt dessen verweist sie den Leser auf spätere Arbeiten, die inzwischen vorliegen, und deren Lektüre sich in Ergänzung zur vorliegenden Studie dringend empfiehlt. Die Engführung des Klassenkonzepts an den Eigentumsformen und den Verfügungsgewalten über die Produktionsmittel erweist es als ein politökonomisches Klassenmodell. Aus soziologischer Sicht ist das nicht unbedingt zwingend, es sei denn, man glaubt, damit den Schlüssel zur Erklärung zentraler sozialer Ungleichheitsdimensionen gefunden zu haben. Und genau dies tut die Autorin.

Die ungleichheitsgenerierende Wirkung der Klassenlagen für die Lebenschancen der Menschen in der DDR ist Gegenstand des zweiten, empirischen Teils der Untersuchung. Ihr wird am spezifischen Fall der intergenerationalen Mobilität zwischen den Klassenlagen nachgegangen. Sie rückt deshalb in den Mittelpunkt der Analyse, weil sie Aussagen über den Grad der Reproduktion der Klassenstruktur einer Gesellschaft zuläßt. Namentlich die klassenspezifischen Zugangschancen zu den höheren Positionen einer Gesellschaft sind starke Indikatoren für ihre sozialstrukturelle Offenheit bzw. Geschlossenheit. Gemäß diesen Vorüberlegungen hat Solga die Zugangschancen von Kindern aus unterschiedlichen Klassenlagen und unterschiedlichen Kohorten zu den sozialistischen Dienstklassen untersucht, also zu jenen Klassen, die nach der Parteielite selbst über die größte Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel verfügten und sich damit – so sieht es jedenfalls die Autorin – einen privilegierten Anteil am produzierten Reichtum habe sichern können.

Als zentrales Ergebnis der Analyse der Daten konstatiert Solga einen fundamentalen Wandel des intergenerationalen Mobilitätsregimes sowohl was die Chancen als auch die Kriterien und die Art und Weise des Zuganges der Kinder aus verschiedenen Klassenlagen zu den Dienstklassen betrifft. In der Phase der Durchsetzung der sozialistischen Produktionsweise und der Etablierung und Ausgestaltung des Partei- und Staatsapparates haben wir es mit vielfältigen, z.T. bewußt politisch induzierten (Austausch der alten Eliten und Dienstklassen), z.T. erzwungenen (massive Westmigration) Prozessen kollektiver Mobilität zu tun, die, im Verein mit einer positiven Privilegierung von Arbeiter- und (mit Abstrichen) Bauernkindern, zu deutlich verbesserten absoluten und relativen Aufstiegschancen für Kinder aus der Arbeiterklasse führten. In dieser Zeit war es diesen Kindern auch möglich, herkunftsbedingte Bildungsdefizite durch die öffentliche Bekundung von Systemloyalität (operationalisiert als Parteimitgliedschaft in der SED bzw. einer Blockpartei und/oder höhere Funktionsträgerschaft in einer der parteiabhängigen Massenorganisationen) zu kompensieren. Dieser Zugewinn an Aufstiegschancen hielt mit abnehmender Tendenz bis in die 1960er Jahre hinein an. Ungeachtet dessen waren aber auch zu dieser Zeit die Zugangschancen von Kindern, deren Eltern einer der Dienstklassen angehörten, immer noch höher, als die von Arbeiter- und Bauernkindern.

Mit dem Ende des transformationsbedingten Um- und Ausbaus des Partei- und Staatsapparates, der Schließung der Staatsgrenze, dem sukzessiven Abbau der positiven Privilegierung von Arbeiter- und Bauernkindern und der Zurücknahme der Bildungsexpansion Anfang der 1970er Jahre verschlechterten sich die Zugangsmöglichkeiten zu den sozialistischen Dienstklassen für alle Klassenlagen. Zugleich individualisierte sich das Mobilitätsregime auf der Basis einer wachsenden und sich wandelnden Bedeutung der Zugangskriterien Bildung und Systemloyalität. Von diesem Umbau des Mobilitätsregimes und der Modifizierung der Zugangskriterien zu den Dienstklassen profitierten aber die Kinder aus den Dienstklassen am meisten, weil sie für den Konkurrenzkampf um die knapper werdenden höheren Positionen, sowohl was die Bildung als auch die Bereitschaft zu systemloyalem Verhalten betrifft, am besten gerüstet waren. Da die Bekundung von Systemloyalität darüber hinaus zu einer notwendigen Zugangsbedingung geworden war, die weitgehend instrumentell und inflationär gehandhabt wurde, verlor dieses Kriterium für die Arbeiterkinder seine kompensatorische Funktion. Kurz: Die relativen Zugangschancen von Arbeiterkindern verschlechterten sich im Vergleich zu Kindern, deren Eltern bereits einer der Dienstklassen angehörten, beträchtlich. Im Resultat führten diese Entwicklungen insbesondere in den 1980er Jahren zu einer zunehmenden sozialen Schließung und Selbstrekrutierung der sozialistischen Dienstklassen und zu einer restriktiveren Reproduktion der Klassenstruktur der DDR-Gesellschaft überhaupt.

Der Schlußfolgerung der Autorin, daß die Ergebnisse der empirischen Untersuchung den Klassencharakter der DDR-Gesellschaft in ein helles Licht rückten, wird nicht jeder folgen können. Zuvor wäre jedenfalls noch nachzuweisen, ob auch in anderen Bereichen sozial ungleiche Lebenschancen, Lebensbedingungen und Lebensformen den in den Klassenlagen eingeschriebenen "objektiven" Differenzen folgten oder diese vielmehr überlagerten und inwiefern diese Klassenlagen tatsächlich zur Grundlage von sozialen Formierungsprozessen und Klassenkonflikten wurden. Bei der Formierung von Klassen zu kollektiven Akteuren greifen in einem nicht zu unterschätzenden Maß kontingente Kodierungs-, Organisations-, Integrations- und Deutungsprozesse, die nicht nur nicht einfach zu einer Verdoppelung der "basalen", in den Eigentumsverhältnissen "angelegten" Klassenlagen führen, sondern diese Eigentumsverhältnisse auch erheblich mitbestimmen. Dies gilt insbesondere für eine politisch und ideologisch so stark überformte Gesellschaft wie die DDR. Wenn sie denn eine Klassengesellschaft war, dann eine paradoxe Klassengesellschaft, deren eigentümliche Physiognomie sich gerade der Überlagerung und wechselseitigen Durchdringung der staatlichen Inszenierungs- und gelebten Alltagspraxis von "Klassenidentitäten" verdankte. Erst eine Analyse, die diese Aspekte zusammenführt, könnte Geltung beanspruchen, das Geheimnis der staatssozialistischen Klassengesellschaft DDR gelüftet zu haben. Denn es genügt nicht, den Schein der Klassenlosigkeit der DDR-Gesellschaft als solchen zu entlarven; es gilt auch, die soziale Wirkungsmächtigkeit dieses Scheins in der Gesellschaft nachzuzeichnen.

Literatur

Solga, Heike (1995): Auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft? Klassenlagen und Mobilität zwischen Generationen in der DDR. Berlin: Akademie Verlag.

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