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Henri Band

Beiträge zu:
Hans-Peter Müller / Michael Schmid (Hrsg.): Hauptwerke der Ungleichheitsforschung. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003.

Die Druckfassungen weisen kleine Ungenauigkeiten auf. Dies hier sind die autorisierten Fassungen.

© Henri Band

Douglas, Mary (geb. 25.03.1921 San Remo, gest. 16.05.2007 London) / Isherwood, Baron (geb. 04.02.1945 Hawarden, Wales)
Erstausgabe: The World of Goods. Towards an Anthropology of Consumption. London: Allen Lane 1978.
Verwendete Ausgabe: Revidierte Auflage mit neuer Einleitung. London: Routledge 1996.

Der Essay The World of Goods entwickelt einen anthropologischen Zugang zum Verständnis des Güterkonsums in modernen und tribalen Gesellschaften. Douglas und Isherwood grenzen sich zum einen von ökonomischen Konsummodellen ab, die den Konsumenten als marktrationalen Entscheider begreifen, der einem individuellen Nutzenkalkül folgt. Zum anderen distanzieren sie sich von sozialkritischen Sichtweisen, die im Konsum nur das neidvolle Spiel von konkurrentieller Selbstdarstellung, Prestigesicherung und Nachahmung erkennen können. Ihrer Überzeugung nach muss der Güterkonsum und das Spektrum seiner gesellschaftlichen Funktionen viel weiter gefasst werden. Sie selbst folgen daher einem „communication“ bzw. „information system approach to consumption“. Güter sind Teil eines „live information system“ (S. 10). Sie gehören nicht nur zum kulturellen Universum einer Gesellschaft, sondern konstituieren als nonverbale Medien und sichtbare Marker das intelligible Universum der Bedeutungen und Unterscheidungen selbst erst mit. In ihrer Fähigkeit, Sinn zu kreieren, und nicht in ihrer Nützlichkeit, liegt ihre entscheidende Funktion, oder, wie es in Anlehnung an eine berühmte Formulierung von Claude Lévi-Strauss heißt: „commodities are good for thinking“ (S. 62). Ohne Güter und Konsum keine Kultur, keine soziale Ordnung. Einzelne Güter und Konsumpraktiken können dementsprechend nicht aus sich heraus, sondern nur in Relation zu allen Gütern und Praktiken einer Gesellschaft, zum Sinn- und Werthorizont einer Kultur verstanden werden. So kommt es auf den sozialen und kulturellen Kontext an, welche Konsumentscheidungen in den jeweiligen Gesellschaften oder Gruppen als rational und sinnvoll gelten, was verschwenderisch, geizig oder sparsam ist, welche Güter und Konsumstile Macht und Ansehen verleihen.

Der soziale Bezugspunkt der Argumentation von Douglas und Isherwood ist nicht das einzelne Individuum, das sich einzelne Güter aneignet, um seine individuellen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern der Haushalt bzw. Familienverband, der in vielfältigen Beziehungen zu anderen Haushalten und zur Gesellschaft steht und durch Gütergebrauch und Konsumrituale sich und seine sinnhaften und sozialen Beziehungen zur Welt (re)produziert. Unter Rückgriff auf ethnographische Forschungen entwickeln sie ein „concept of scale of consumption“ (S. 138ff.). Der Begriff „scale of consumption“ zielt nicht auf den materiellen Umfang des Konsums, sondern auf dessen soziale Wirkungsmächtigkeit, die natürlich an materielle Voraussetzungen gebunden ist. Reichweite, Form und Periodizität des Konsums sind Ausdruck für den gesellschaftlichen Rang, die Handlungsfähigkeit und die soziale Involviertheit einer Gruppe oder Person. Die Personen und Haushalte wollen via Konsum und konsumvermittelten sozialen Austausch die für sie und ihr Leben wichtigen Informationen erhalten und kontrollieren. Sie streben nach einer „large-scale consumption“, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Der Wettbewerb um knappe Güter und die Abschließung erfolgreicher Gruppen gegenüber dem Rest der Gesellschaft führen zu großen Diskrepanzen im Ausmaß des Konsums und zu wachsender sozialer Ungleichheit. Dies gilt besonders für die entwickelten Industriegesellschaften, wo schwache Gruppennormen und individualisierte Interaktionsbeziehungen diese Dynamik verschärfen.

In Analogie zum Modell der Wirtschaftssektoren und zum internationalen Handel unterscheiden Douglas und Isherwood für die Industriegesellschaften drei Konsummuster, je nach Ausgabenanteil, den die Haushalte für den Erwerb von Produkten aus den jeweiligen Sektoren (food, technology goods, information) aufbringen müssen. Diese Struktur birgt jedoch – wie der Handel zwischen armen und reichen Ländern – eine Tendenz zur Selbstreproduktion der Ungleichheit, zur Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich. Der informations- und dienstleistungsorientierte Konsum ermöglicht den höheren Klassen, ihr überlegenes Wissen und damit ihre überlegene soziale und ökonomische Stellung auszubauen. Armut und Reichtum ist nicht eine Frage der „quantity of goods“, des materiellen Besitzes, sondern des Zuganges zu gesellschaftlich wertvollen Informationen und sozialen Netzwerken. Arm sein bedeutet, sozial isoliert und von den Informationsströmen der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Wachsende materielle Verarmung ist eher Folge als Ursache dieser Isolierung. Armut inmitten des Überflusses kann nicht allein als Problem der kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden, das durch Umverteilung und staatliche Kontrolle zu lösen wäre. Vielmehr kommt es darauf an, die Betroffenen in das gesellschaftliche Leben aktiv zu integrieren.

Das Buch hat nachhaltig zur Kulturalisierung der Konsumforschung beigetragen, indem es auf die symbolischen und rituellen Aspekte des Konsums in modernen und vormodernen Gesellschaften aufmerksam gemacht hat.

Literatur

Appadurai, A. (Hrsg.): The Social Life of Things. Cambridge: Cambridge University Press 1986.

Douglas, M.: Objects and Objections. Toronto: Toronto Semiotic Circle 1992.

Fardon, R.: Mary Douglas. An Intellectual Biography. London: Routledge 1999.

McCracken, G.: Culture and Consumption. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1988.

Slater, D.: Consumer Culture and Modernity. Cambridge: Polity Press 1997.

Henri Band

Lenski, Gerhard (geb. 13.08.1924 Washington D.C.)
Ersausgabe: Power and Privilege. A Theory of Social Stratification. New York: McGraw-Hill 1966.
Deutsche Ausgabe / Verwendete Ausgabe: Macht und Privileg. Eine Theorie der sozialen Schichtung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1973.

Macht und Privileg stellt einen makrosoziologischen, historisch-komparativen Versuch dar, die Entwicklung von Verteilungssystemen von den Anfängen der Gesellschaftsgeschichte bis in die Gegenwart zu beschreiben und zu erklären. Das Interesse Lenskis gilt dabei nicht nur den Strukturen sozialer Ungleichheit, sondern vor allem ihren Ursachen und der Dynamik des Verteilungsprozesses.

Sein Ansatz zielt auf eine Synthese und Weiterentwicklung zweier kontroverser Grundauffassungen über soziale Schichtung: der konservativen bzw. funktionalistischen Auffassung, soziale Ungleichheit sei unvermeidlich, letztlich gerecht und für die Erhaltung der Gesellschaft notwendig, und der radikalen bzw. konflikttheoretischen Perspektive, die in sozialer Ungleichheit ein destruktives und willkürliches Resultat des ausbeuterischen Herrschaftsstrebens von Eliten sieht. Tatsächlich spiegeln Verteilungssysteme das konfligierende Gemisch von Systemmechanismen und Einzelinteressen wider, die nicht gegeneinander aufrechenbar sind.

Lenski definiert soziale Schichtung als den Prozeß, durch den knappe Werte verteilt werden (S. 12). Der Mensch ist ein soziales Wesen, das im Eigeninteresse handelt und nach knappen Gütern strebt. Dies führt zwangsläufig in allen Gesellschaften zu einem Kampf um Ressourcen und Gratifikationen. Der Prozeß der Ausbildung sozialer Ungleichheit kommt aber erst wirklich in Gang, wenn die Technologie die Produktion eines Surplus erlaubt, das von Personen oder Gruppen akkumuliert und monopolisiert werden kann. Die technologische Basis bildet daher die Schlüsseldeterminante der Entwicklung von Verteilungssystemen. In Gesellschaften mit keiner oder einer geringen Surplusproduktion wie den Jäger- und Sammlergesellschaften erfolgt die Verteilung vor allem nach Bedarf, in Gesellschaften mit einem wachsenden Surplus zunehmend nach Macht, d.h. nach der Macht derjenigen, die sich das Surplus aneignen und darüber verfügen können.

Macht ist das zentrale Schichtungskriterium bei Lenski. Sie bestimmt wesentlich, wie und an wen das Surplus verteilt wird. Privilegien und letztlich auch Prestige sind weitgehend eine Funktion von Macht (S. 71f.). Anhand der Schlüsselvariable Technologie unterscheidet Lenski insgesamt acht Gesellschaftstypen, denen typische Klassen- und Verteilungssysteme entsprechen. Die jeweilige Technologie der Subsistenzproduktion ist aber nicht die einzige Determinante von Verteilungssystemen. Die konkrete Gestalt der Verteilungsstruktur einer Gesellschaft ist von einer Vielzahl weiterer Faktoren abhängig wie zum Beispiel den Umweltbedingungen, der Herrschafts- und Wirtschaftsform sowie der demographischen Entwicklung, deren kausales Gewicht je nach Gesellschaftstyp variiert (Übersicht S. 577). Macht kann sich zudem aus verschiedenen Quellen speisen. Jede Gesellschaft besteht aus mehreren Klassensystemen mit verschiedenen Verteilungsprinzipien, die miteinander in Konflikt geraten können (S. 116ff.).

Am schärfsten ist die soziale Schichtung und der Grad der Ungleichheit in Agrargesellschaften ausgeprägt. In ihnen sind die Regierungsinstitutionen die primäre Quelle sozialer Ungleichheiten. Wer die Herrschaft über den Staat erlangen konnte, verfügte auch über den größten Teil des wirtschaftlichen Surplus.

In der Industriegesellschaft wird die alte Entwicklungstendenz „technologischer Fortschritt gleich mehr Surplus gleich mehr Ungleichheit“ gebrochen und umgekehrt (S. 406ff.). Die Demokratisierung des Wahl- und Organisationsrechtes, kollektive Gegenbewegungen der unteren Klassen sowie Zunahme und Wandel der Funktionen des Staates haben zu einer breiteren Streuung der politischen Macht geführt. Die Verteilung des wirtschaftlichen Reichtums ist ebenfalls egalitärer geworden, insofern fast keiner mehr gänzlich vom produzierten Wohlstand ausgeschlossen wird und die Grenzen zwischen den Einkommens- und Berufsklassen dank gestiegener vertikaler Mobilität durchlässiger geworden sind. Ein wichtiges Machtmittel zur Durchsetzung dieser gegenläufigen Entwicklung war die Idee allgemeiner Bürgerrechte. Die Stärkung und rechtliche Institutionalisierung dieser Idee interpretiert Lenski als einen Versuch, die Verteilung nach Bedarf gegenüber der nach Macht partiell wiederherzustellen. Gleichwohl ist die Ungleichverteilung von politischer Macht und wirtschaftlichem Reichtum in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften nach wie vor sehr groß, die Verteilungslogik folgt aber weitgehend anderen Mustern als in der Agrargesellschaft, und die Verteilungskämpfe haben ihren gewalttätigen Charakter verloren. Bildungsinstitutionen und Bildungsabschlüsse haben einen enormen Einfluß auf die Verteilung von Positionen und Privilegien erlangt und zu einem Bedeutungszuwachs des Bildungs- und Berufsklassensystems gegenüber dem Besitz- und dem politischen Klassensystem geführt. Erworbene Qualifikationen gewinnen gegenüber Besitz und zugeschriebenem bzw. ererbtem Status immer mehr an Relevanz, wie Lenski unter anderem am Aufstieg der Managerklasse und dem Machtverlust der besitzenden Klasse verdeutlicht.

Das Buch besticht durch seine multidimensionale Betrachtung von Schichtung und Verteilungssystemen in ihrer Entwicklungsdynamik. Die kausale Erklärungskraft der Faktoren und die Behauptung langfristig wirkender evolutionärer Tendenzen bleiben allerdings umstritten.

Literatur

Lenski, G. (Hrsg.): Current Issues and Research in Macrosociology. Leiden: E.J. Brill 1984.

Nolan, P./Lenski, G.: Human Societies. An Introduction to Macrosociology. 8. Aufl. New York: McGraw-Hill 1999.

Henri Band

Packard, Vance Oakley (geb. 23.05.1914 Granville Summit, Penns., gest. 12.12.1996 Martha’s Vineyard, Mass.)
Erstausgabe / Verwendete Ausgabe: The Status Seekers. An Exploration of Class Behavior in America and the Hidden Barriers That Affect You, Your Community, Your Future. New York: McKay 1959.
Deutsche Ausgabe: Die unsichtbaren Schranken. Theorie und Praxis des Aufstiegs in der „klassenlosen“ Gesellschaft. Düsseldorf: Econ 1959.

The Status Seekers ist der zweite der drei Nr. 1-Sachbuchbestseller, die Packard innerhalb weniger Jahre geschrieben hat, nachdem seine Karriere als Magazin-Schreiber ein Ende gefunden hatte. Das Material stammt vor allem aus der soziologischen und psychologischen Fachliteratur. Darüber hinaus hat er Experten befragt sowie eigene informelle Studien und Recherchen in Städten und Gemeinden durchgeführt.

Die Grundfrage des Buches lautet: „What happens to class distinction among people when most of them are enjoying a long period of material abundance?“ (S. 3) Genau eine solche Periode der rasanten Wohlstandssteigerung für alle Schichten diagnostiziert Packard für die Zeit von Anfang der 1940er bis Ende der 1950er Jahre. Entgegen der optimistischen Behauptung einiger Meinungsführer und dem amerikanischen Glauben, in einer klassenlosen Gesellschaft mit realisierter Chancengleichheit zu leben, hat dieses Wohlstandswachstum jedoch nicht zu einem Verschwinden der Klassendifferenzen geführt noch hat die Angst um den eigenen Status nachgelassen. Vielmehr zeigen sich deutliche Anzeichen einer Erstarrung der Klassenstruktur und einer Verschärfung des Statuswettbewerbs.

Neben der Entstehung von bürokratischen Mammutorganisationen in Wirtschaft und Verwaltung („bigness“) macht Packard die allgegenwärtigen Rangordnungsprozesse im Alltag für die Restratifizierung der amerikanischen Gesellschaft verantwortlich. Das Statusstreben wird vor allem von den „status seekers“ angeheizt, ein Begriff, den Packard zum Schlagwort gemacht hat (S. 7). Sie sind ständig bemüht, sich mit Insignien des von ihnen beanspruchten überlegenen Ranges zu umgeben und gegenüber Statusniedrigeren abzugrenzen. Hinzu kommen die Absatzstrategien der Werbeleute, Güter zu Statussymbolen aufzuwerten. Der größte Teil des Buches widmet sich der Darstellung der Statussysteme in verschiedenen Lebensbereichen, auf denen die Einschätzung des Ansehens von Personen beruht (S. 59ff.). Angefangen von der Ausgestaltung des eigenen Hauses über die Wohngegend, den ausgeübten Beruf und das Einkommen, die Geschmacks- und Verhaltensmuster, die Partnerwahl, den Freundeskreis und den Erziehungsstil, die Religionszugehörigkeit und ethnische Herkunft bis hin zu den Clubs und Vereinen, denen man angehört, und den Schulen und Colleges, die man besucht hat – alles wird zur Fremd- und Selbstbewertung des sozialen Status herangezogen. Das Universum potentieller Statusmerkmale scheint unendlich.

In der Konsumwelt zeigen sich allerdings auch Tendenzen einer Aufweichung von Klassengrenzen durch die allgemein gestiegene Kaufkraft. In der Welt der Produktion und der Bildung sind jedoch die Klassenschranken für die unteren Schichten unüberwindlicher geworden (S. 8f., 301). Packard unterscheidet auf der Basis einer mehrdimensionalen Prestigeskala fünf Hauptklassen, die er wiederum zu zwei Gruppen zusammenfaßt: der „Diploma Elite“ und den „Supporting Classes“ (S. 38ff., 246ff.). Zwischen diesen beiden Gruppen hat sich eine Kluft aufgetan. Während sich die klassische Prestigedifferenz zwischen den white- und blue-collar-Berufen verwischt hat, ist eine neue Klassengrenze zwischen den „lower and upper white-collar groups“ entstanden. Sie rührt daher, daß ein College-Diplom zum wichtigsten Zugangskriterium zu den höheren Statuslagen geworden ist (S. 32ff.). Die frühe Entscheidung für eine höhere Ausbildung in den richtigen, d.h. prestigeträchtigsten Bildungsinstitutionen wird zur unabdingbaren Voraussetzung für den beruflichen und sozialen Aufstieg. Spätere Tüchtigkeit im Beruf zahlt sich nicht aus, wenn der College-Abschluß fehlt. Da die Kinder aus den unteren Klassen zudem über geringere Bildungsmotivationen verfügen und die Kosten für eine höhere Bildung oft nicht bezahlen können, wird ihnen der Zugang zu den Führungspositionen in Wirtschaft und Verwaltung verbaut. Dies führt zur kollektiven Frustration der Betroffenen, die im Verein mit einer Wirtschaftskrise eine Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung heraufbeschwören könnte.

Um diese durch den verschärften Statuswettbewerb und die verminderten beruflichen Aufstiegschancen verursachte Erstarrung der Klassenstruktur aufzubrechen, formuliert Packard zwei Lösungsansätze (S. 330ff.). Zum einen soll das Verständnis zwischen den sozialen und ethnischen Klassen durch zwischenmenschliche persönliche Kontakte gefördert werden. Zum anderen soll begabten Kindern aus den unteren Klassen der Zugang zu den höheren Bildungseinrichtungen durch soziale und materielle Unterstützungsleistungen erleichtert werden, um dem Ideal einer leistungsgerechten „society of achieved status“ wieder näher zu kommen.

Packards sozialkritischer Versuch, den Amerikanischen Traum zu neuem Leben zu erwecken, zehrt vom moralischen Appell an nostalgisch verklärte individualistische „producer values“ (D. Horowitz). Die akademische Soziologie reagierte daher auf das Buch mit dem Vorwurf der „Kitsch sociology“ (L. A. Coser). Nichtsdestotrotz hat es breite amerikanische Bevölkerungsschichten für die Schattenseiten der „affluent society“ sensibilisiert und die Protestkultur der 1960er und 1970er Jahre mit vorbereitet.

Literatur

Horowitz, D.: Vance Packard & American Social Criticism. Chapel Hill, London: University of North Carolina Press 1994.

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Scitovsky, Tibor (geb. 03.11.1910 Budapest, gest. 01.06.2002 Stanford)
Erstausgabe: The Joyless Economy. An Inquiry into Human Satisfaction and Consumer Dissatisfaction. New York, London, Toronto: Oxford University Press 1976. Revidierte Aufl. 1992.
Deutsche Ausgabe: Psychologie des Wohlstands. Die Bedürfnisse des Menschen und der Bedarf des Verbrauchers. Frankfurt/Main, New York: Campus 1977. Verwendete Ausgabe: Frankfurt/Main, New York: Campus 1989.

The Joyless Economy ist eine kritische Abrechnung mit der Mainstreamökonomie und ihrer Erklärung des Konsumentenverhaltens. Die Wirtschaftswissenschaftler unterstellen dem Verbraucher ein rationales, nutzenmaximierendes Verhalten. Sein tatsächliches Konsumverhalten betrachten sie als ein getreues Abbild seiner Präferenzen, deren Herkunft und Inhalte nicht näher hinterfragt werden. Folglich gibt es auch keinen Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Verbraucher und den durch Konsum erzielten Befriedigungen. Solange äußere Umstände nicht die freie Wahl des Konsumenten beschränken, wird er sich die für ihn besten Güter aneignen und mit sich und der Welt zufrieden sein. Die Annahme eines rational und souverän entscheidenden Konsumenten hält Scitovsky, selbst ein Ökonom, für völlig unrealistisch. Über eine realistischere und durch empirische Experimente abgesicherte Sicht menschlicher Verhaltensweisen verfügt jedoch die Psychologie. Er greift deshalb auf Konzepte und Forschungsergebnisse der physiologischen Psychologie bzw. Motivationspsychologie zurück, um das tatsächliche Verbraucherverhalten und dessen Motivationen zu beschreiben und zu erklären.

Der erste Teil des Buches entwirft eine allgemeine Theorie des menschlichen Strebens nach Bedürfnisbefriedigung. Das menschliche Wohlbefinden hängt von einem optimalen, mittleren Erregungsniveau ab. In unserem Verhalten versuchen wir, dieses Niveau durch Senkung oder Steigerung der Reize zu erreichen. Gelingt dies, stellen sich Gefühle des Behagens ein. Gefühle der Lust entstehen dagegen durch Änderungen des Erregungsniveaus (S. 57). Die Beziehung von „comfort“ und „pleasure“ birgt allerdings ein fundamentales Dilemma: Ein Zuviel an Wohlbehagen kann Lust verhindern. Bleibt das Erregungsniveau gleichmäßig hoch, stellt sich Langeweile und Unzufriedenheit ein, weil das menschliche Verlangen nach Lust, nach Anregung und Neuheit nicht mehr gestillt wird (S. 65f.). Damit glaubt Scitovsky die Antwort auf die zentrale zeitdiagnostische Frage seines Buches gefunden zu haben: Warum unter den Amerikanern trotz des hohen Lebensstandards die Frustration über ihren Lebensstil zunimmt (S. 12f.). Es ist der materielle Wohlstand selbst, der zu Übersättigung und Überdruß geführt hat. Die Verbraucher verhalten sich in Konsumdingen leider nicht allzu rational, wie Scitovsky am Beispiel des Eßverhaltens, der Bewegungsarmut und der Dickleibigkeit vieler seiner amerikanischen Zeitgenossen darlegt. Durch ihr von Gewohnheiten geprägtes Streben nach Behagen und Sicherheit legen sie selbst die Quellen des lustvollen Genusses trocken. Neben der Bedürfnisbefriedigung gibt es aber eine andere Quelle der Lust, die zudem unerschöpflich ist: die Stimulierung durch Neues. Hier bieten sich den Wohlstandsgesättigten aus den ökonomisch reichen Ländern neue Möglichkeiten des Lustgewinns, die den Verlust der Freuden, die mit der Bedürfnisbefriedigung verbunden sind, kompensieren können.

Diese Möglichkeiten werden allerdings in Amerika nicht ausgeschöpft. Eine Erklärung hierfür kann nicht mehr in den psychologischen Gesetzen der Bedürfnisbefriedigung, sondern nur noch in den gesellschaftlichen Verhältnissen und Werten gefunden werden. Der zweite Teil des Buches widmet sich ausführlich dem amerikanischen Lebensstil und den Gründen für die Unzufriedenheit trotz hohen materiellen Wohlstands (S. 127ff.). Scitovsky konfrontiert den Leser mit dem irritierenden Bild einer „affluent and joyless society“. Amerika erscheint als ein Land, das sich im Vergleich zu Westeuropa durch einen eklatanten Mangel an Konsum-, Kommunikations- und Genußfähigkeit, an Bildung und Kultur auszeichnet. Der immer noch lebendige Geist des Puritanismus, die einseitige Bildungsorientierung auf Produktionsfähigkeiten, die Eintönigkeit der Massen- und Medienprodukte, die Monotonie der Arbeit und eine an Zufallsbeschäftigungen vergeudete Freizeit verschütten Stimulierung und Anregung, Vielfalt und Neuheit als Quellen der Lust und hinterlassen bei vielen Menschen ein Gefühl der Leere und satten Langeweile. Dieses Gefühl kann sich sogar in Gewalt und Vandalismus entladen. Einen Ausweg aus diesem Zustand der Unzufriedenheit im Reichtum bietet die Entwicklung der Konsumfähigkeiten. Eine Orientierung auf mehr Lebensgenuß würde zudem die Menschen nicht nur glücklicher, sondern ihren Lebensstil auch weniger teuer und ressourcenverschlingend machen.

Das Buch ist eine scharfsinnige Analyse der heraufziehenden Erlebnisgesellschaft und ihrer Dilemmata. Gelegentlich wurde dem Autor ein Hang zum Elitismus vorgeworfen. Die Einsicht, daß die Höhe des Sozialprodukts oder der Einkommen kein Maßstab für die menschliche Wohlfahrt sind, weil in diese ökonomischen Größen weder die externen Kosten des materiellen Wachstums noch die nichtökonomischen Befriedigungen eingehen, hat allerdings bis heute den Mainstream der Wirtschaftswissenschaften kaum tangiert.

Literatur

Earl, P. E.: Tibor Scitovsky. In: W. J. Samuels (Hrsg.): New Horizons in Economic Thought. Aldershot: Elgar 1992, S. 265-293.

Scitovsky, T.: Human Desire and Economic Satisfaction. Brighton: Wheatsheaf 1986.

Special Issue on Tibor Scitovsky’s The Joyless Economy after Twenty Years. Critical Review 10 (1996) H. 4, S. 471-605.

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