Henri Band
Die Dialektik des Geständnisses
Hyunseon Lees Studie "Geständniszwang und 'Wahrheit des Charakters' in der Literatur der DDR"
Rezension erschienen in: literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und für Kulturwissenschaft. 4. Jg. (2002) Nr. 1 (Januar). Leicht ergänzt.
© Henri Band
Die Wende- und Nachwendezeit bescherte dem deutschen Buchmarkt eine Schwemme von Autobiographien, Memoiren und Prosawerken ostdeutscher Autoren und Autorinnen, die mehr oder weniger direkt die Aufarbeitung der Geschichte der DDR und der eigenen Verstrickungen in diese Geschichte zum Thema haben. Diese Werke durchweht fast alle ein Tonfall der moralischen Anklage oder Rechtfertigung, der Gewissenserforschung und Selbstbefragung. Und sie umkreisen fast alle die Frage der Schuld: des schuldhaften Handelns oder des schuldhaften Schweigens in dieser Gesellschaft. Der Zusammenbruch der DDR kam einem definitiven historischen Schiedsspruch gleich und löste einen Enthüllungs- und Erklärungsdrang bei all jenen aus, die in diesem Land gelebt und gearbeitet haben.
Die Welle autobiographischer Diskurse führt Hyunseon Lee in ihrer Studie "Geständniszwang und 'Wahrheit des Charakters' in der Literatur der DDR" auf einen inneren freiwilligen Geständniszwang zurück, der die Befindlichkeit vieler Schriftsteller in der Ex-DDR kennzeichne und sich nach dem Sturz der SED-Herrschaft öffentlich und ungehindert Luft machen konnte. Dieser Zwang stellt ihrer Ansicht nach ein zentrales Charakteristikum der Wendeliteratur Ostdeutschlands und eines bedeutenden Teils der DDR-Literatur überhaupt dar, das von der offiziellen DDR-Ästhetik und der westlichen DDR-Literaturforschung bislang kaum beachtet worden sei. Aber nicht nur in der Literatur und bei Literaten zeigt sich dieser Hang zu öffentlichen Bekenntnissen, sondern auch bei vielen Ex-Parteimitgliedern, Opfern stalinistischer Verfolgungen und normalen Bürgern.
Die freiwilligen wahren Geständnisse interpretiert Lee als eine zeitversetzte Reaktion auf die erzwungenen Geständnisse und das erzwungene Schweigen insbesondere in der Zeit des Hochstalinismus der 30er bis 50er Jahre. Die von ihr verfochtene These einer "Dialektik des Geständnisses" meint, wie es in einer etwas blumigen Formulierung heißt, "dass das äußerlich erzwungene Geständnis sozusagen im Schatten seiner Lüge stets schon den Raum eines freiwilligen und wahren Geständnisses mitentwirft" (S. 21). Prosaischer formuliert: Die erzwungenen Geständnisse der Stalinzeit, die verlogenen Selbstkritikrituale und das auferlegte Schweigen schaffen langfristig ein Begehren nach innerlich-freien Geständnissen, in denen die historische Wahrheit und die Wahrheit des Charakters wiederhergestellt, die Schuld aufgearbeitet und die eigene Identität zurückgewonnen werden sollen.
In diesem Phänomen sieht die Autorin in Anschluss an Michel Foucault eine spezifische historische Ausprägung der machtbesetzten Produktion von Wahrheit und Subjektivität in der Moderne. Sie versteht deshalb ihre Untersuchung nicht als eine literaturwissenschaftliche im engeren, sondern als diskursanalytische im weiteren Sinne. Nach Foucault kommt Geständnissen als Disziplinar- und Selbsttechnologie eine bedeutende Rolle bei der Konstitution moderner Subjekte zu. Im ersten, historisch-systematischen Teil des Buches umreißt Lee die Metamorphosen der Geständnisproduktion von der mittelalterlichen Inquisition über die Beichte bis zur Psychoanalyse Freuds (S. 27ff.). Die modernen bekennenden autobiographischen Diskurse verortet sie in dieser Tradition der erzwungenen oder stimulierten Selbstthematisierung des Individuums im Angesicht einer realen oder imaginierten höheren Instanz. Im Zuge der Entwicklung der Geständnisformen etabliert sich die öffentliche Befragung und Selbstbefragung als Königsweg der Wahrheitsfindung über eine Person und ihren wahren Charakter. Dem entsprechen bestimmte Vorstellungen über den Charakter als einer ganzheitlichen, transparenten und stabilen personalen Identität. Ein einheitlicher und standfester Charakter wird fortan zur gesellschaftlichen Prüfnorm, an der die gelungene Subjektwerdung eines Individuums gemessen werden kann.
In den von der Autorin analysierten stalinistischen Schauprozessen und ihren Diskursritualen wird die Verzahnung von äußerem Geständniszwang, machtbesetzter Wahrheitsproduktion und entindividualisierender Charaktermodellierung zur schrecklichen parteiterroristischen Realität (S. 84ff., 210ff.). Die erzwungenen Geständnisse bildeten praktisch die einzigen Beweismittel für die den Angeklagten zur Last gelegten monströsen Untaten. Die Prozesse wurden als klassische Charakterdramen inszeniert, in denen sich die Angeklagten selbst als abgrundtief böse Charaktere vor einer bestellten guten Öffentlichkeit entlarven mussten. Dabei hatten sie den Schein der Freiwilligkeit und Aufrichtigkeit ihrer Geständnisse strikt zu wahren. Im Sinne der Charakterdramaturgie beließ man es nicht bei der juristischen Verhandlung einzelner Schuldvorwürfe. Das ganze Leben der Angeklagten wurde zu einer einzigen Verbrecher- und Verschwörerbiographie umgestrickt. Ihr Charakter sollte als der von geborenen Schurken, Verrätern und Doppelzünglern vorgeführt werden, von Wölfen im Schafspelz, deren Tun und Trachten von Anfang an auf den Sturz des Sozialismus gerichtet war und die deshalb weder Gnade noch Mitleid verdienen.
In ihrer daran anschließenden Diskursanalyse pragmatischer politischer Geständnisse der Wendezeit (u.a. von Walter Janka und Wolfgang Harich) zeigt Lee überzeugend, dass viele Opfer der Schauprozesse, aber auch politisch Verantwortliche in ihren nunmehr freiwilligen Geständnissen und autobiographischen Zeugnissen ähnlichen Diskursmustern, wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen folgen (S. 228ff.). Sie stellen nun den erzwungenen falschen ihre freiwilligen wahren Geständnisse entgegen, um die historischen Tatsachen zurechtzurücken, die Charaktere der Teilnehmer an den Prozessen neu zu bewerten und die Integrität des eigenen Charakters, der eigenen Identität wiederherzustellen bzw. zu verteidigen. Ihre Selbstzeugnisse sind einem emphatischen Wahrheits-, Aufrichtigkeits- und Charakterverständnis verpflichtet; doch damit bleibt das Geständnis- und Charakterdispositiv auch in seinen fragwürdigen Aspekten als privilegierte Wahrheitsinstanz nahezu ungebrochen in Kraft.
Dieser Gestus der diesmal allerdings wirklich der Wahrheit und nicht der Lüge verpflichteten Entlarvung der wahren historischen Zusammenhänge und des wahren Charakters der Akteure findet sich auch in den von Lee analysierten literarischen Geständnissen bekannter DDR-SchriftstellerInnen. Exemplarisch untersucht sie Harald Hausers Produktionsstück "Am Ende der Nacht", Brigitte Reimanns Erzählung "Das Geständnis", Anna Seghers' unvollendete Erzählung "Der gerechte Richter", Christa Wolfs "Kindheitsmuster", Stefan Heyms Erzählung "Der Gleichgültige" und dessen Roman "Collin", "Horns Ende" von Christoph Hein und das Buch "Stille Zeile Sechs" von Monika Maron (S. 298ff.). In all diesen Texten stehen schuldhafte Verstrickungen der ProtagonistInnen in die Geschichte, erzwungene und freiwillige Geständnisse sowie am Ideal der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit orientierte Selbstanalysen und Charakterdarstellungen im Mittelpunkt des Geschehens, weshalb sie Lee als "Geständnisliteratur" klassifiziert. Zum Teil wird die von ihr skizzierte "Dialektik des Geständnisses" in den Werken sogar selbst zur tragenden erzählerischen Struktur. Diesen Mustern der literarischen Wahrheits- und Selbstfindung korrespondieren das in DDR verbreitete Bild vom Schriftsteller als einer herausragenden moralischen Instanz, die einen hohen Wahrheitsanspruch verficht und eine Versöhnung von Macht und Geist immer noch für möglich hält (S. 395f., 450), sowie die verbreitete Vorstellung vom Schreiben und Lesen als einer Selbsttherapie.
Einige der Texte gehen allerdings über die aus den pragmatischen politischen Geständnissen bekannten Muster der gesinnungsethisch angehauchten Wahrheitssuche hinaus, indem sie die Grenzen und zum Teil auch die Vermessenheit einer zwanghaften öffentlichen Befragung und Selbstbefragung explizit zum Thema machen. Besonders den genannten Romanen von Christa Wolf und Christoph Hein räumt die Verfasserin eine gewisse Ausnahmestellung ein. In ihnen kommen auch die Schwierigkeiten des Erinnerns, Erkennens und Bewertens des eigenen Lebens und der Geschichte ausführlich zur Sprache. Gedächtnislücken und Verdrängtes machen die Erinnerungen eines Individuums stets zu etwas Bruchstückhaftem, Subjektivem. Und aus den Erinnerungen einer Vielzahl von Individuen lässt sich nicht ohne weiteres eine kollektiv verbindliche objektive Wahrheit herausfiltern, denn jeder erinnert eine andere Geschichte bzw. die Geschichte anders. In beiden Romanen wird zudem die Identitätsfiktion des Charakters in Frage gestellt und seine Pluralität, Inkonsistenz und Wandlungsfähigkeit anerkannt. Selbstfindung erfolgt nicht mehr nur als unterwürfige Anbindung an eine höhere kollektive Instanz, sondern als subjektive Ichfindung in Abgrenzung zu den gesellschaftlichen Zwängen und Zumutungen. Damit gewinnt die DDR-Literatur Anschluss an offene, subjektive Erzählmuster der westlichen literarischen Moderne.
Die Argumentation von Lee ist über weite Strecken stimmig und einleuchtend. Mit dem Label "Geständnisliteratur" erfasst sie treffend eine bedeutende Strömung innerhalb der DDR-Literatur. Die polarisierende und globale Entgegensetzung dieser Literatur zur westdeutschen literarischen Moderne überzeugt dagegen nicht ganz, gab und gibt es doch auch in der alten Bundesrepublik zahlreiche Werke, die sich gut unter diese Rubrik einordnen ließen. Und auch die DDR-Literatur lässt sich nicht vollständig unter diesem Label vereinen. Zudem haben wir es bei der Geständnisliteratur offenkundig auch mit einem Generationenphänomen zu tun, wie die Autorin selbst stellenweise andeutet: Es sind vor allem die älteren Generationen der politisch engagierten Schriftsteller in Ost und West, die die an Wenden so reiche deutsche Geschichte miterlebt und mitgestaltet haben, welche zur literarischen Geständnisproduktion neigen. Ob die Übernahme der diskursanalytischen Perspektive Foucaults, die ja nicht selten an Machtmetaphysik grenzt, tatsächlich einen theoretischen Gewinn darstellt, darüber lässt sich streiten. Jedenfalls stimuliert sie die Autorin mitunter zu kühnen Abstraktionen, so wenn sie in der westlichen Moderne einen sexuell-intimen und in der sozialistischen Moderne einen politisch codierten Geständniszwang disziplinarmächtig am Werke zu sehen meint. Als größerer Wermutstropfen erweist sich indes die Tatsache, dass sich das Buch erfolgreich einer Lektorierung entziehen konnte und in all seiner technischen und stilistischen Unvollkommenheit der interessierten Öffentlichkeit übergeben wurde.
Literatur
Lee, Hyunseon (2000): Geständniszwang und "Wahrheit des Charakters" in der Literatur der DDR. Diskursanalytische Fallstudien. Stuttgart, Weimar: Verlag J. B. Metzler.