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Henri Band

Ist Max Webers verstehende Soziologie naturblind?

Erschienen in: Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal. 21. Jg. (2010) Heft 4, S. 134–147. Erweiterte und veränderte Fassung 2017/2018.

© Henri Band

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Dieser Hund gehört mir, sagten diese armen Kinder. Das da ist mein Platz an der Sonne.
Darin bestehen der Anfang und das Ebenbild der Usurpation der ganzen Erde.

Blaise Pascal

In Max Webers Soziologie spielen Naturbezüge und ökologische Fragen tatsächlich keine prominente Rolle – wenn man heutige Maßstäbe der entwickelten Umweltsoziologie heranzieht. Gleichwohl soll Weber (stellvertretend für die Soziologie) gegen den Vorwurf der Naturblindheit bzw. eines strikten Anti-Naturalismus verteidigt werden, dem sich die Klassiker der Soziologie und die Soziologie insgesamt in aktuellen Diskussionen immer wieder ausgesetzt sehen. Kern der Kritik bildet die Behauptung, die Soziologie habe alle Referenzen auf Natur oder Natürliches aus der Betrachtung und Erklärung sozialer Phänomene getilgt, ja bewusst ausgegrenzt.[1] Sieht man in den Schriften Webers selbst nach, stellt man fest, dass an vielen Stellen seines Werkes durchaus Naturbezüge in den Blick kommen, sowohl Fragen des Verhältnisses der Menschen zur äußeren Natur als auch des Verhältnisses zu ihrer eigenen Natur. Zudem hatte Weber ein klares Bewusstsein davon, dass sich das Selbstverständnis der Soziologie gerade auch gegenüber den anderen Humanwissenschaften und der Biologie zu profilieren und zu behaupten hat. Insofern kann eine Beschäftigung mit Weber der Soziologie helfen, die neuerlichen Herausforderungen durch die unter dem Label „Lebenswissenschaften“ zusammengefassten biologischen Wissenschaften vom Menschen ohne Selbstpreisgabe ihrer disziplinären Identität zu bestehen. Aber der historisch-rückblickende Bezug auf Weber oder einen anderen Klassiker des Faches kann die Soziologie wiederum nicht gänzlich von der Frage entlasten, welche neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften für sie durchaus relevant sein können, ja sollten, will sie ihre Reputation als Wissenschaft in den aktuellen Debatten nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Hier soll es deshalb weniger um den philologischen Verweis auf die durchaus zahlreichen Stellen gehen, an denen Max Weber Naturentitäten und Naturbezüge ins Spiel bringt, sondern vor allem um das Soziologieverständnis selbst und die Frage, welche systematische Stellung der Natur bzw. den gesellschaftlichen Naturbezügen innerhalb der Soziologie überhaupt zukommt bzw. zukommen kann. Die Klage über thematische und inhaltliche Defizite des Faches übersieht nämlich zum einen die vielfältigen Anschlussmöglichkeiten für die Umweltsoziologie bzw. die Soziologie gesellschaftlicher Naturverhältnisse, die z.B. gerade Webers Soziologiekonzeption bietet. Zum anderen läuft der oberflächlich plausible Hinweis auf eine Naturblindheit der Soziologie selbst Gefahr, bewusst oder unbewusst die Ansprüche an eine Soziologie als Wissenschaft auszuhebeln zugunsten eines zwar politisch und ökologisch korrekteren, aber theoretisch und empirisch verflachten Verständnisses von Soziologie, vom Sozialen und von den Mensch-Natur-Verhältnissen.[2]

Der vorliegende Text versteht sich als eine elementare Übung zur soziologischen Denkweise, stellt jedoch in den Anmerkungen in Form kleiner Exkurse einige Verbindungen zu historischen und aktuellen Phänomenen und Debatten her. Um den systematischen Ort der Natur in der verstehenden Soziologie Webers zu bestimmen, beschränke ich mich weitgehend auf den Abschnitt „Soziologische Grundbegriffe“ in Wirtschaft und Gesellschaft.

Naturale, materiale, soziale und mentale Aspekte menschlicher Praxis

Die Grundbegriffe setzen mit der bekannten Definition von „Soziologie“ ein: „§ 1. Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ (Weber 1980, S. 1)

Hier kommen zunächst die allgemeinsten Ansprüche an die Soziologie als einer eigenständigen Wissenschaft zur Sprache: mit einem besonderen Gegenstand, einer eigenen Methode und dem Anspruch auf eine Erklärung der untersuchten Phänomene (und nicht nur ihre Beschreibung). Die ersten Anknüpfungspunkte für die Naturproblematik bieten Webers Definitionen von „Handeln“ und „sozialem Handeln“:

„‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (ebd.)

Dieser Definition wohnt eine begriffslogische Ordnung inne: Sie schreitet vom allgemeinen Begriff des Verhaltens (genus proximum) durch einschränkende bzw. spezifizierende Bestimmungen (differentia specifica) zum sozialen Handeln fort. Damit umfasst Webers Definition auch menschliche Verhaltensweisen, die nicht oder nur annäherungsweise unter den Begriff des sozialen Handelns fallen, sondern als Handeln gegenüber der (äußeren und eigenen) Natur – bzw. gegenüber Objekten, Dingen und Organismen – zu verstehen sind, sowie Aspekte des menschlichen Verhaltens, die nicht im vollgültigen Sinne sozial konstituiert, subjektiv sinnhaft und deshalb sinnhaft verständlich sind. Genau in diesem Spektrum der offenen Deutung von Verhaltens­erscheinungen als natural (genetisch), sozial und/oder mental bestimmt bewegt sich z.B. die Diskussion um das Aufmerksam­keitsdefizit-Hyperaktivitäts­syndrom (ADHS / ADS; mitunter Zappelphilipp-Syndrom genannt).

Die begriffslogische Ordnung der Definition lässt sich wie folgt veranschaulichen:

Begriff

Bestimmungsmomente

 

 

menschliches Verhalten

äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden

(Robinson isst gedankenverloren eine Banane)

 

 

Handeln

+ subjektive Sinnhaftigkeit (impliziert ein gewisses Maß an Intentionalität, Reflexivität und Instrumentalität)

(Robinson macht Feuer)

 

 

soziales Handeln

+ auf Verhalten und Handeln konkreter oder anonymer „anderer“ bezogen und daran in seinem Ablauf orientiert

(Robinson setzt einen Brief auf und übergibt ihn als Flaschenpost dem Meer)

 

 

soziale Beziehung

+ wechselseitig aufeinander eingestelltes und dadurch orientiertes Verhalten und Handeln von zwei oder mehr Personen

(Robinson trifft Freitag)

 

Die direkten, praktischen Naturbeziehungen der Menschen werden bei Weber auf der Ebene des Handelns (gegenüber Objekten im weitesten Sinne) angesiedelt (Verhältnis zur äußeren Natur). Zudem betrachtet er die für die Soziologie relevante Frage danach, ob im konkreten Untersuchungsfall wirklich Handeln, soziales Handeln oder nur ein reaktives Sichverhalten vorliegt, als empirisch offene Frage, denn die Übergänge zwischen den Verhaltensformen sind flüssig – das macht er in seinen Erläuterungen zu den Definitionen unmissverständlich deutlich. Analoges gilt für das Verhältnis zwischen Sozialem und Biologischem im Menschen selbst (Verhältnis zur inneren Natur; dazu später mehr). Für Weber ist also der Mensch zweifellos ein biosoziales, permanent in Natur- und Sozialprozesse eingebundenes Wesen. Das besondere Erkenntnisinteresse der Soziologie gilt aber den sozialen Komponenten dieses Wesens, d.h. den Voraussetzungen, Formen, Funktionen, Folgen und Wandlungsdynamiken von Sozialität und Personalität.

So wenig alles Handeln nach Weber rationales Handeln ist, so wenig ist alles Verhalten der Menschen Handeln in dem von ihm gemeinten soziologisch relevanten Sinne. Das ist nun aber nicht vereinfachend so zu interpretieren, dass Verhalten biologisch und Handeln sozial determiniert sei. Auch Verhalten kann sozial, d.h. durch Interaktionen (mit-)konstituiert sein[3], und Handeln hat stets biologische Korrelate bzw. Erfüllungsbedingungen, ohne die es nicht möglich wäre (z.B. das Zentralnervensystem).[4] Wir haben es in der Realität mit einem Kontinuum von Verhaltensmodalitäten zu tun, die sich aber zu Typen zusammenfassen lassen. Die von Weber unterschiedenen vier Typen des (allgemeinen und sozialen) Handelns (zweckrational, wertrational, affektuell und traditional bestimmtes Handeln) differenzieren sich nach der mentalen Form und dem Grad der Ausgeprägtheit des subjektiven Sinnbezuges sowie der Reflektiertheit und Kontrolliertheit der Ziele, Mittel, Werte und Folgen des Handelns (Weber 1980, S. 12 f.). Das rein traditionale bzw. gewohnheitsmäßige Handeln steht z.B. auf der Grenze zwischen sinnhaftem Handeln und reaktivem, nicht mit einem subjektiv gemeinten Sinn verbundenen Sichverhalten.[5] Daneben gibt es psychophysische Vorgänge, wie Weber sie nennt, die z.T. gar nicht oder nur für den Fachexperten verständlich sind (ebd., S. 2). Man kann hier einen epileptischen Anfall nennen.[6] Dem Beispiel des Zusammenpralles zweier Radfahrer, mit dem Weber deutlich machen will, dass nicht jede Art der Begegnung bzw. „Berührung von Menschen [...] sozialen Charakters“ ist, „sondern nur ein sinnhaft am Verhalten des andern orientiertes eignes Verhalten“ (ebd., S. 11), kann man darüber hinaus entnehmen, dass Handlungsvollzüge immer auch einen naturalen Ereignischarakter tragen und in Handlungen jederzeit andere Ereignisse hineinwirken oder gelegentlich buchstäblich hereinbrechen können, die den Handlungsablauf verändern oder soziale Konflikte auslösen.[7] Die physische Kollision zweier bewegter, verletzlicher und leidensfähiger Körper hat mitunter ein ärztliches und ein gerichtliches Nachspiel, weil sie nicht nur über Masse und Geschwindigkeit, sondern auch über ein exzentrisches Selbst verfügen.

Neben diesem operationalen Wissen der Soziologie über Idealtypen des Handelns und Verhaltens existiert aber weiterhin das praktische Alltagswissen von Akteuren, mit dem diese qua Beobachtung und Zuschreibung den Handlungscharakter des Verhaltens von Ko-Akteuren in Alltagssituationen deuten und bewerten. Wie die Akteure selbst ihr Verhalten – auch gegenüber Naturentitäten – wechselseitig kategorisieren, welche Verhaltenserwartungen sie hegen und welchen Verhaltensweisen sie warum und mit welchen Folgen einen (sozialen) Handlungscharakter zuschreiben – oder auch nicht –, ist natürlich ein zentrales Untersuchungsfeld einer soziologischen Handlungstheorie. Ein epileptischer Anfall kann im Rahmen einer religiösen Wissensordnung als Ausdruck einer Besessenheit durch Geister erscheinen. Der Fahrradunfall kann durch einen der Fahrer schuldhaft verursacht sein, weil er bei Rot über die Kreuzung gefahren ist. Dann stellt sich die juristisch relevante Frage, ob er das Ampelsignal übersehen oder bewusst ignoriert hat, ob Nervengifte seine Fahrtauglichkeit und Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigt haben oder ob äußere Umstände sein Fehlverhalten erklären können.

Gleichwohl hat Webers Soziologie-Definition einen Haken: die Bestimmung des sozialen Handelns als den „zentralen Tatbestand“ der Soziologie, „der für sie als Wissenschaft sozusagen konstitutiv ist“ (ebd., S. 12). Weber macht zwar gleich im Anschluss an diese Formulierung deutlich, dass damit nichts über die Wichtigkeit dieses Tatbestandes im Verhältnis zu anderen Tatbeständen ausgesagt sei, aber dennoch ist hier die Möglichkeit einer zu weit gehenden Ausklammerung von anderen Formen des Handelns und Verhaltens aus dem Untersuchungsbereich der Soziologie gegeben, und zwar gerade jener Formen, die unser praktisches Verhältnis zu Naturphänomenen betreffen.[8] Interessanterweise bestimmt Weber in seinem Kategorienaufsatz von 1913 noch Handeln (gegenüber inneren und äußeren Objekten) als das spezifische Objekt der Soziologie und soziales Handeln „nur“ als das für die verstehende Soziologie spezifisch wichtige Handeln (Weber 1988, S. 429).

Die starke Akzentuierung des sozialen Handelns in den Grundbegriffen von 1921 ist bereits von Hans Linde (1972) ausführlich kritisiert worden.[9] Sie birgt nämlich nicht nur die Gefahr einer Ausblendung der menschlichen Naturverhältnisse aus der Soziologie, sondern vor allem einer zu weit gehenden Ausklammerung der materiell-technischen Infrastrukturen des Handelns, ohne die viele Handlungen nicht nur nicht verstehbar, sondern empirisch überhaupt nicht möglich sind.[10] Diese Infrastrukturen prägen aber nicht nur die Verfassung von Gesellschaften maßgeblich mit, die ohne diese materiellen Strukturen als Massengesellschaften gar nicht funktionsfähig wären: Sie verleihen auch den menschlichen Naturverhältnissen erst jene globale, tief in die Naturprozesse eindringende Dimension, die sie heute haben. Ohne Technik und Arbeit kann der Mensch Ökosysteme nicht wirklich gefährden oder gar zerstören.

Webers starker Fokus auf soziales Handeln erklärt sich aus seinem ausgeprägten Interesse an sozialen Ordnungen und Ordnungsbildungen in Form von Vergemeinschaftungs-, Vergesellschaftungs- und Institutionalisierungsprozessen. Die Akzentuierung gerade des sozialen Handelns ist aber wiederum nicht so abwegig, wie sie ökologischen Soziologen erscheinen mag, denn nahezu alle praktischen materiell-gegenständlichen Umwelt- und Naturbeziehungen werden in Sozialisationsprozessen erlernt, zwischen Akteuren ausgehandelt, institutionell stabilisiert und tradiert. Sie lassen sich nicht allein aus (gelungenen oder misslungenen) Anpassungsprozessen an die Naturgegebenheiten (naturalistische Sicht) oder aus den technischen Infrastrukturen der Aneignung der Natur (materialistische Sicht) erklären, sondern nur unter Einbeziehung der jeweiligen sozialen, kulturellen und ökonomischen Ordnungen der Aneignungsweisen von Natur.

Bleibt man beim Handeln als Grundbegriff der Soziologie, sähe eine Typologie der allgemeinen Handlungsbegriffe, die sich statt am Rationalitätsgrad des Handelns danach gliedert, auf was das Handeln von Akteuren bezogen und an was es orientiert sein kann, eher so aus:

Soziologie als Wissenschaft vom menschlichen Handeln

Handeln: subjektiv sinnbezogenes Sichverhalten

materiell-gegenständliches Handeln

selbstbezogenes Handeln

soziales Handeln

ordnungsbezogenes Handeln

bezogen auf Natur, Umwelt, Artefakte

bezogen auf sich selbst und die eigenen psychischen und körperlichen Zustände

bezogen auf konkrete oder anonyme andere Akteure

bezogen auf soziale und kulturelle Ordnungen, Normen und Werte und deren Geltung

Holzfällen

Meditation

Seminardiskussion

Ausarbeitung eines Vortrages über Webers wahre Ansichten zum Verhältnis von Soziologie und Natur

Empirisch treten diese Formen des Handelns in vielfältigen Kombinationen auf.

Für Weber hat die Soziologie bei der Erklärung des Handelns bei dem subjektiv gemeinten Sinn der Akteure anzusetzen: Dieser Sinnbezug stellt eine Schlüsselvariable zur Erklärung insbesondere des sozialen Handelns dar. Aber Weber macht zugleich klar, dass dies nicht heißt, man könne die Umstände, unter denen das Handeln stattfindet, einfach ignorieren – denn das machen ja die Akteure auch nicht.[11] Zu den Umweltfaktoren zählt Weber „sinnfremde Vorgänge und Gegenstände“, wie er sie nennt, also auch Naturerscheinungen im weitesten Sinne. Das können Naturkatastrophen wie der „Einbruch des Dollart“ sein oder „der organische Kreislauf des Lebens“ von der Wiege bis zur Bahre, der eine „erstklassige soziologische Tragweite [hat] durch die verschiedenen Arten, in welchen menschliches Handeln sich an diesem Sachverhalt orientiert hat und orientiert“. Diese „Vorgänge und Gegenstände kommen für alle Wissenschaften vom Handeln als: Anlaß, Ergebnis, Förderung oder Hemmung menschlichen Handelns in Betracht“, sind also von der Soziologie – wie durch die praktisch Handelnden selbst – als „Daten“ hinzunehmen, mit denen zu rechnen ist (Weber 1980, S. 3; siehe zudem Weber 1988, S. 430 f.). Sie sind nicht unwichtig, auch nicht für die Soziologie – genau dies unterstellen jedoch Dunlap und Catton (1983, S. 118) Weber und der Soziologie. Aber ihre Wichtigkeit und kausale Relevanz für soziale Praktiken und Ordnungsbildungen gilt es nachzuweisen, sonst verlässt man den Boden der Wissenschaft zugunsten von Weltanschauungen. An diesen herrscht allerdings auch im Feld der Sozialwissenschaften kein Mangel.

Zudem weist Weber darauf hin, dass „sinnfremd“ nicht identisch ist mit „unbelebt“ oder „nichtmenschlich“. Es kann sich also bei diesen Gegebenheiten um Naturvorgänge, das Verhalten anderer Spezies oder um menschliche Verhaltensweisen und Regungen handeln, deren Sinn nicht (oder nur: noch nicht) verständlich ist. Darüber hinaus macht Weber am Beispiel der Maschine deutlich, dass in Artefakten menschliche Zweck-Mittel-Relationen vergegenständlicht, also Sinnbezüge und Nutzungserwartungen objektiviert und materialisiert wurden, die ein Verstehen dieser Objekte erlauben; ohne ein Wissen um diese Zweck-Mittel-Relationen bleiben die Artefakte aber ebenfalls unverständlich (Weber 1980, S. 3) – wie vielen Laiennutzern die Innereien ihres Computers.

Welche Natur – und welches Soziale?
Max Webers Umgang mit dem Naturbegriff und das Begründungsproblem einer eigenständigen Sozialwissenschaft
Ein Exkurs

Die Sinngebung des Sinnfremden

Die prozesshafte Sicht Webers auf praktische Zweck-Mittel-Relationen, die auch materielle Vorgänge und Gegenstände sinnvoll werden lassen, kann für das Verhältnis der Menschen zu Naturentitäten verallgemeinert werden: In und durch die Aneignung der Natur durch Menschen verlieren immer mehr Teilbereiche der Natur ihren Charakter der Sinnfremdheit für diese Menschen. Sie treten in das Reich ihrer Praxis, ihrer Bedürfnisse, ihres Wissens und ihrer Phantasien ein und gewinnen durch diese soziokulturelle Codierung und technische Manipulierung eine neue, handlungs­orientierende Sinnhaftigkeit – allerdings nicht für alle Akteure und nicht für alle Akteure in gleicher Weise.[12] Mit der Beherrschung des Feuers gewinnt Holz ein neues Moment der Sinnhaftigkeit für den Menschen als Brennholz. Die Brennbarkeit des Holzes ist eine Naturtatsache, die menschliche Verwendung von Holz als Brennholz zum Kochen und Heizen nicht. Und diese Sinnbestände werden kulturell gespeichert, tradiert, kumuliert und moduliert.[13]

Menschen haben als kommunikative Wesen stets auch sinnfremde Vorgänge gemäß ihrem Verstehens- und Wissensvermögen zu deuten und zu erklären versucht. Das ging sogar so weit, dass ihnen viele Naturerscheinungen als beseelt und intentional handelnd erschienen. Dies galt und gilt natürlich besonders für jene Naturvorgänge und ‑ereignisse, die von existenzieller Bedeutung für die betreffenden Gesellschaften waren und sind. Diese Deutung kann in religiöser (existenzbedrohende Naturereignisse als ein göttliches Strafgericht) oder in wissenschaftlicher Form (Klimawandel als Folge des vermehrten Ausstoßes von Treibhausgasen durch die Menschen) erfolgen, mit je unterschiedlichen Konsequenzen für diese Gesellschaften und ihren Naturverhältnissen. Menschliches Handeln orientiert sich also auch an natürlichen Sachverhalten, aber immer im Rahmen der jeweiligen Sozial-, Kultur-, Wissens- und Technikordnungen.

Sinngebung sinnfremder Naturvorgänge

 

  • durch die praktische Entdeckung, Aneignung und Umwandlung von Naturgegebenheiten für menschliche Zwecke und Bedürfnisse

Baum
Heuschrecke

Brennholz
Delikatesse

 

  • durch die alltagsweltliche, anthropomorphe oder religiöse Deutung unverständlicher oder sinnloser Naturerscheinungen

Heuschreckenplage

göttliches Strafgericht

 

  • durch die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Naturphänomene in ihrer Eigenlogik

Heuschreckenschwärme

komplexes Zusammenspiel von konkreten Umweltbedingungen und einer Insektenart in einem Ökosystem

Webers verstehende Soziologie eignet sich hervorragend, um diese sinnkonstituierenden Prozesse, deren praktische Grundlagen und deren Folgen für die gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu analysieren (nichts anderes macht Weber in seiner Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“). Denn die Menschen handeln nicht nur den Dingen, sondern auch den Naturphänomenen gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge bzw. Naturphänomene für sie im Rahmen ihrer ökonomischen und kulturellen Wertordnung besitzen bzw. erlangt haben – so lautete, etwas abgewandelt, die erste Prämisse des symbolischen Interaktionismus von Herbert Blumer (1973, S. 81). Die Naturphänomene lassen sich jedoch nicht auf die Bedeutungen reduzieren, die ihnen Menschen beimessen.[14] Nicht die Soziologie Webers ist naturblind, sondern die Klassikerlektüre einiger Soziologiekritiker.

Kurz: Es gibt bei Weber kein systematisches Defizit, das es unmöglich machen würde, die Frage der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auch mit den Mitteln der verstehenden Soziologie als einer Handlungswissenschaft anzugehen. Die eigentlichen und viel schwierigeren Probleme tauchen erst auf, wenn es um die Erklärung der jeweils untersuchten Handlungen bzw. Ordnungsbildungen und die Gewichtung der relevanten (sozialen und nichtsozialen) Erklärungsfaktoren geht.[15] Auch hier neigt Weber zu empirischer Vorsicht: Es kommt eben auf den untersuchten Fall und die untersuchte Fragestellung an. Universelle Erklärungsschemata helfen nicht wirklich weiter. Modelle für umgrenzte Zusammenhänge aber schon.

Die biosoziale Natur des Menschen und die Soziologie

Es existieren noch andere Felder zum Thema Natur und Naturverhältnisse, bei denen Weber weiterhin bedenkenswerte Fingerzeige zu geben vermag: Das betrifft zum einen den Bereich der biosozialen Natur des Menschen und der Relevanz biologischer Verhaltenserklärungen für die Soziologie und zum anderen den Bereich der Koevolution von sozialer und organischer Natur des Menschen.

Das von Weber verfochtene Prinzip des methodologischen Individualismus soll auf die spezifische, eingeschränkte Sichtweise der Soziologie auf den Menschen aufmerksam machen. Handeln gibt es für ihn „stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen“ (Weber 1980, S. 6). Mit diesem Postulat mahnt Weber nicht nur einen wissenschaftlich reflektierten Umgang mit den für die Soziologie heiklen Kollektivbegriffen bzw. ‑vorstellungen an, sondern er verweist damit en passant auf die biologische Konstitution jedes Menschen als eines Einzelorganismus. Dieser Einzelorganismus wird aus der Perspektive der Soziologie allerdings als Person gefasst, d.h. als sinnhaft handelnder Akteur mit sozialen bzw. über soziale Beziehungen erworbenen Eigenschaften, die ihn erst zum Handeln (auch gegenüber Natur) und zur Kooperation mit anderen Akteuren befähigen[16], – also nicht als eine Ansammlung von Zellen bzw. einen Komplex biochemischer Reaktionen oder als ein psychisches Wesen. Allerdings widersprechen sich die sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Sichtweisen auf den Menschen nicht grundlegend; sie widersprechen sich nur, wenn sie als konkurrierende Sicht- und Erklärungsweisen kommuniziert werden.[17]

Menschen haben als biologische, soziale und kulturelle Wesen nicht nur ein Verhältnis zur äußeren Natur, sondern auch zu ihrer eigenen Natur.[18] Der Mensch ist nicht von Natur aus ein Kulturwesen (oder gar ein Mängelwesen), sondern er wird im Laufe der Evolution (und seiner individuellen Sozialisation) mehr und mehr zu einem Kulturwesen auf naturalen Grundlagen und mit weitreichenden Folgen für diese Grundlagen. Zu diesen Grundlagen gehört auch sein organischer Leib, den er mit sich herumträgt bzw. der sein Ich lokalisiert und am Leben hält. Die Vielschichtigkeit und Komplexität seiner Konstitution lässt sich an den Begriffen „Organismus – Leib – Körper – Selbst – Person“ festmachen.

Organismus

Leib

Körper

Selbst / Identität

Person

sich von seiner Umwelt abgrenzendes und seinen Stoffwechsel mit der Umwelt aktiv regulie­rendes Lebe­wesen mit spezifischer Ausstattung an Organen und Sinnen

der von innen wahrgenom­mene, gespürte, empfundene und empfin­dungs­fähige Körper; eigenleiblich lokalisierbare Regungen und Befindlichkeiten

die von außen wahrnehmbare, räumlich lokalisierbare Physis, die als Wirkmacht in die Welt sowie als Medium von Kommunikation fungiert

in inter- und autoaktiver Sozialisation konstituiertes und inkorpo­riertes reflexives Selbst in seinen Komponenten „I“ (individuelle) und „Me“[19] (gesellschaft­liche Identität)

der handlungs-, beziehungs- und kommu­nika­tionsfähige Akteur, der als solcher von anderen Akteuren wahr­genommen, anerkannt und adressiert wird

(über-)lebens­sichernde Aktivitäten

somatisches Leibsein

instrumentelles und expressives Körperhaben

Bewusstsein und Reflexion des eigenen und anderen Selbst als Selbst und des eigenen und anderen Körpers als Verkörperung dieses Selbst

Handeln und soziales Handeln in Welt-Akteurs­konstellationen

Dementsprechend kann sich das Handeln eines Akteurs gegenüber einem anderen Akteur oder gegenüber sich selbst auf die organischen, leiblichen, körperlichen, identitären und/oder personalen Seinsdimensionen beziehen. Auch hier interessiert sich die Soziologie dafür, auf welches Gegenüber das Handeln und Verhalten im konkreten Fall gerichtet ist und in welcher Weise sich diesem Gegenüber verhalten wird.[20] Das schließt die Möglichkeit des leib-, selbst-, mitwelt- oder naturvergessenen Handelns im Sinne des Unterlassens, Duldens oder Ignorierens durchaus ein.

Für die Soziologie ist der Mensch nicht einfach Akteur, sondern sie fasst bzw. untersucht Menschen als Akteure, als Träger sinnhaft orientierten Handelns, und die (sozialisatorischen) Bedingungen der Möglichkeit, ein handlungs- und beziehungsfähiger Akteur zu werden. Insofern gibt es kein fundamentales Privileg der Soziologie auf die Erforschung des Menschen. Stattdessen haben wir es mit einer alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Pluralisierung der Sichtweisen auf den Menschen zu tun, unter denen die Soziologie nur eine von vielen möglichen praktiziert. Gleichwohl treten (auch) manche Soziologen so auf, als hätten sie ein Alleinvertretungsrecht bei der Erforschung des Menschen bzw. die einzig mögliche und richtige Sichtweise auf den Menschen, die es vehement zu verteidigen gelte. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht ist jedoch ein sozialer Exzeptionalismus genauso fragwürdig wie ein genetischer Exzeptionalismus.[21] Allerdings insistiert die Soziologie auf einer besonderen wissenschaftlichen Kompetenz hinsichtlich der Feststellung, Beobachtung, Deutung und Erklärung sozialer Tatsachen. Täte sie das nicht, würde sie ihre Existenzberechtigung leugnen.

Die Soziologie nimmt von den inneren (biologischen) Naturtatbeständen des Einzelmenschen so viel und so wenig Notiz wie von allen anderen möglichen (äußeren Natur-)Tatbeständen auch. Wo sie nachweislich Einfluss auf Handeln nehmen oder zum sinnhaften Bezugspunkt von Handeln werden, sind sie als Daten in Rechnung zu stellen. Und es ist natürlich klar, dass allein schon das Wissen um bestimmte innere oder äußere Naturtatbestände bzw. um Tatbestände als Naturtatbestände (die dem willentlichen Zugriff des Einzelnen leicht, schwer oder gar nicht zugänglich sind) handlungsorientierende Wirkungen entfalten kann, und zwar unabhängig davon, ob dieses Wissen nach irgendwelchen wissenschaftlichen Kriterien „richtig“ oder „falsch“ ist.

Biologische und soziale Kausalbeziehungen und Looping-Effekte zwischen Biologischem und Sozialem

Ein soziozentrisches Menschenbild war Weber fremd: Er schließt die Möglichkeit explizit nicht aus, dass sich statistisch messbare Effekte, Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten jenseits der Ebene sinnhafter Zusammenhänge feststellen lassen, die in diesem Sinne also (wahrscheinlich) nicht Ausdruck sozialer Präge- und Lernprozesse (inter- und autoaktive Erwartungs-, Einstellungs- und Normenbildung), sondern nichtsozialer Kausalbeziehungen und Einflüsse sind – jedenfalls solange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Der Nachweis solcher Effekte und Einflüsse stelle aber weder die speziellen Aufgaben der Soziologie noch ihre spezifische Sichtweise auf den Menschen grundsätzlich infrage (Weber 1980, S. 3; Weber 1988, S. 431). So viel soziologisches Selbstbewusstsein kann man sich auch heute nur wünschen.

Die modernen medizinstatistischen, genetischen, neurobiologischen und verhaltens­psychologischen Untersuchungen fördern eine Vielzahl von Regelmäßigkeiten, Zusammenhängen und statistischen Korrelationen zutage, die das soziologische Verständnis vom menschlichen Handeln insofern unterlaufen können, als sie Kausaleffekte auf einer anderen Ebene bzw. in einer anderen Form als der sinnhaften Verhaltens­orientierung von und kommunikativen Handlungs­koordination zwischen Akteuren behaupten. Dieser Erklärungskonkurrenz muss sich die Soziologie stellen, aber vor allem als Wissenschaft, d.h. nicht allein dadurch, dass sie auf die politische Gefährlichkeit oder Missbrauchs­anfälligkeit dieser Erklärungen hinweist, sondern indem sie die empirische Evidenz für ihren Erklärungsansatz stärkt und zugleich um dessen Grenzen weiß. Sie muss damit rechnen, dass es einen Teil dieser mehr oder weniger moderaten nichtsozialen Effekte und Einflüsse auf Handeln tatsächlich gibt. Lehnt sie diese Möglichkeit nur aus prinzipiellen Gründen ab, argumentiert sie dogmatisch. (vgl. van den Daele 2009, S. 59)

Interessanter und wichtiger für die Soziologie ist jedoch der bereits erwähnte Punkt, dass ein Effekt biologischer (oder natürlicher) Gegebenheiten auf das Handeln auch dann gegeben ist, wenn die Akteure sich in ihrem Handeln am Glauben oder Wissen orientieren, dass es diese Gegebenheiten gibt, sie einen „wirklichen“ Einfluss haben und bestimmte Erwartungen und Handlungsanforderungen für sich und andere aus dieser Gewissheit ableiten. Dies kann sogar zu Biolooping-Effekten führen (Hacking 1999, S. 172 ff.; Geist-Körper-Effekt, Placebo- und Nocebo-Effekt), wenn z.B. das Wissen um den wirklichen oder eingebildeten Einfluss von biologischen und anderen naturalen Faktoren selbst erst ein leiblich spürbares Unbehagen verursacht – wie im Fall einer ärztlichen Krebsdiagnose, obwohl der Betroffene beschwerdefrei ist. Damit wandelt sich aber der biologische Einfluss biologischer Gegebenheiten zu einem sozialen Einfluss des Wissens über oder des Glaubens an biologische (oder eben natürliche) Gegebenheiten – getreu dem bekannten Thomas-Theorem: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ (Thomas/Thomas 1928, S. 572) Und mit diesem Wissen von der „Macht“ des Wissens, Glaubens und Meinens kann nun wiederum Politik gemacht werden, wie dies besonders in Studien zur Biomacht und Biopolitik herausgestellt wird.[22] Daraus sollte aber nicht voreilig der Schluss gezogen werden, dass alle behaupteten biologischen und natürlichen Einflüsse auf den Menschen nur auf gesellschaftlichen Definitionsprozessen, diskursiven Einbildungen oder gar reaktionären Herrschaftsinteressen beruhen, die pseudowissenschaftlich legitimiert werden sollen, und eine konsequente Leugnung solcher Einflüsse sie aus der Welt schaffen würde. Wenn der Patient die Krebsdiagnose ignoriert oder verdrängt, wird er eines Tages mit hoher Wahrscheinlichkeit leiblich zu spüren bekommen, dass es in ihm eine Welt jenseits des Wissens und der Diskurse gibt.

Ein letzter Punkt: Weber geht an einigen Stellen kursorisch auf mögliche Prozesse der Verschränkung von sozialer und biologischer Evolution beim Menschen ein. Unter dem Begriff „Kampf“ (Weber 1980, S. 20) widmet er sich u.a. kurz der Frage der sozialen und biologischen Auslese. Man lasse sich durch die anrüchig anmutenden Begriffe nicht vom sachlichen Gehalt seiner Anmerkungen ablenken. Weber hält die soziale wie die biologische Auslese (Selektion) für unausschaltbar. Mit Auslese meint er ganz allgemein differenzierte Lebens- und Überlebenschancen von Individuen – in dem einen Fall ihre sozialen, in dem anderen ihre biologischen Chancen.

Beide Arten der Auslese wird es nach Webers Ansicht immer geben. In welcher Form aber diese Auslese stattfindet[23] – über kriegerischen Kampf, friedliche Konkurrenz, den Einfluss differenter Lebens- und Arbeitsbedingungen, über bewusste oder unbewusste Präferenzen, nackte Ausbeutung oder Bildung, freie oder oktroyierte Partnerwahl, über natürliche Zeugung oder In-vitro-Befruchtung, im Geiste einer Politik der Gleichheit oder Ungleichheit, der Gerechtigkeit oder Elitenvorherrschaft etc. – und mit welchen Differenzierungsfolgen für welche Individuen, ist völlig offen und hängt ganz von den jeweiligen Kampf-, Konkurrenz- und Existenzbedingungen, den Einstellungen, Werten und Präferenzen der Akteure ab. Auch hier existieren wirksame Interaktionseffekte zwischen Biologischem und Sozialem, die zum Teil als Koevolution verstanden werden können und müssen. „Alle natürlichen und Kultur-Bedingungen jeglicher Art wirken im Fall der Veränderung in irgendeiner Weise dahin, [...] Chancen für die allerverschiedensten sozialen Beziehungen zu verschieben“ (Weber 1980, S. 21)[24], während soziale Ordnungs-, Beziehungs- und Handlungsmuster und deren Veränderung wiederum die biologische Konstitution und Reproduktion von Menschen oder die natürlichen Lebensbedingungen beeinflussen.[25] Am greifbarsten wird dieser Zusammenhang zwischen Sozialem und Biologischem, wenn es um das Verhältnis von Lebenserwartung, Gesundheit und Arbeits- und Lebensbedingungen geht. Aber selbst die Gründung einer Firma kann Folgen für die Zusammensetzung des Genpools der menschlichen Population haben (vgl. Bayertz 2009, S. 197).

Zudem legt Webers nüchterne Sicht auf die Frage der Auslese im Sinne der faktischen Differenzierung von Lebenschancen einzelner Individuen u.a. den Finger in die offene Wunde der modernen Reproduktionsmedizin und Gendiagnostik. Ja: Die Menschen können inzwischen in die biologischen Reproduktions- und Auslesemechanismen in vielfältiger Weise sozial und technisch eingreifen, sie „menschlicher“ machen, d.h. ihrem Wollen und ihren jeweiligen Zwecken unterwerfen – aber nur um den Preis, dass sie dann selbst zu den Selektierenden werden, die die Auslese und die Kriterien der Auslese verantworten müssen, mit all den schweren ethischen und rechtlichen Fragen, die dies für Akteure, die sinnhaft handeln und ihr Handeln gegenüber sich selbst und anderen Akteuren rechtfertigen müssen, weil sie so, aber auch anders entscheiden können, mit sich bringt. Die Zunahme von Optionen und Eingriffs­möglichkeiten potenziert zugleich die Entscheidungsprobleme, die sachlich, technisch, sozial, ethisch, politisch und juristisch bewältigt werden müssen.[26] Dieses Akteursdasein der Menschen in all seinen lichten und dunklen Facetten – auch gegenüber der äußeren und der eigenen Natur – ist die Domäne der Soziologie.


Literatur

Bayertz, Kurt (2009): Hat der Mensch eine „Natur“? Und ist sie wertvoll? In: Weiß, Martin G. (Hrsg.): Bios und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 191–218.

Blumer, Herbert (1973): Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Herausgegeben, verfaßt und übersetzt von einer Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen. Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 80–146.

Brand, Karl-Werner/Kropp, Cordula (2004): Naturverständnisse in der Soziologie. In: Rink, Dieter/Wächter, Monika (Hrsg.): Naturverständnisse in der Nachhaltigkeitsforschung. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 103–139.

Brand, Karl-Werner/Rammert, Werner (1997): ... eine Soziologie, als ob Natur nicht zählen würde? In: Hradil, Stefan (Hrsg.): Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 529–532.

van den Daele, Wolfgang (2000): Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Eingriffe. In: WechselWirkung 21, Nr. 103/104, S. 24–31.

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[1] Der Vorwurf einer für die Disziplin folgenreichen Ignorierung der physischen Umwelt bereits in der Konstitutionsphase der Soziologie geht auf die Pioniere der amerikanischen Umweltsoziologie Riley E. Dunlap und William R. Catton (1983) zurück und taucht auch in der deutschen umweltsoziologischen Debatte immer wieder auf, obwohl er theoretisch wie soziologiegeschichtlich auf schwachen Füßen steht (siehe z.B. Brand/Rammert 1997; Grundmann 1997; Brand/Kropp 2004; Lemke 2008). Zudem wird der Soziologie von biowissenschaftlicher Seite angekreidet, ihr soziozentrisches Akteursbild verleugne die Bedeutung der biologischen Konstitution des Menschen auch für soziale Prozesse. Als Beleg wird u.a. immer wieder auf einen ominösen Grundsatz von Emile Durkheim verwiesen, „Soziales nur durch Soziales zu erklären“. Diese Wendung findet sich mehrmals in der Einleitung von René König zu Durkheims Buch Die Regeln der soziologischen Methode (König 1984, S. 21, 68, 70, 71). Sie steht dort zumeist in Anführungszeichen, allerdings ohne eine Quellenangabe. Sie wird von König nicht als Zitat, sondern als eine von ihm selbst geprägte Kürzestformel ausgewiesen, die „nicht nur [...] der Inbegriff der Bemühungen Durkheims [sei], sondern [...] auch noch der Grundsatz der modernen wissenschaftlichen Soziologie“ (ebd., S. 71). In Durkheims Buch finden sich nur zwei Stellen, die dieser Formel sehr nahe kommen. Im detaillierten Inhaltsverzeichnis, das, wie in den anderen Publikationen Durkheims auch, recht gut die logische Anlage der Gesamtargumentation deutlich macht, taucht im 5. Kapitel unter II. die Formulierung auf „Die soziologischen Tatbestände können nur durch soziologische Tatbestände erklärt werden“. Bereits hier zeigt sich die Eigentümlichkeit der im Luchterhand Verlag erschienenen und vom Suhrkamp Verlag übernommenen deutschen Fassung, „fait sociaux“ bzw. „fait social“ zumeist sinnschief mit „soziologischer Tatbestand“[1a] zu übersetzen. Die zweite Stelle entgeht dem deutschen Leser, weil in der betreffenden Passage der entscheidende Halbsatz fehlt. Im „Schluß“ heißt es: „Wir haben gezeigt, daß eine soziale Erscheinung nur erklärt werden kann, und haben gleichzeitig gezeigt, wie eine solche Erklärungsweise möglich ist, indem wir den Hauptmotor der kollektiven Entwicklung im inneren sozialen Milieu nachwiesen.“ (Durkheim 1984, S. 221) Der aufmerksame Leser stutzt und fragt: Durch was kann eine soziale Erscheinung nun nur erklärt werden? Hier fehlt doch etwas. Und richtig: das Fehlende findet er im französischen Original. Dort heißt es: „Nous avons fait voir qu’un fait social ne peut être expliqué que par un autre fait social, et, en même temps, nous avons montré comment cette sorte d’explication est possible en signalant dans le milieu social interne le moteur prinipal de l’évolution collective.“ Die alte „autorisierte Übersetzung“ nach der vierten französischen Auflage übersetzt diese Passage noch vollständig: „Wir haben gezeigt, daß eine soziale Tatsache nur durch eine andere soziale Tatsache erklärt werden kann, [...].“ (Durkheim [1908]: Die Methode der Soziologie. Leipzig: W. Klinkhardt, S. 175) Der aktuellen deutschen Ausgabe dieses wichtigen Werkes von Durkheim wäre eine Revision der Übersetzung also durchaus zu wünschen. Wie dem auch sei: Als un- oder falsch belegtes geflügeltes Wort ist die Formel „Soziales nur durch Soziales erklären“ zum festen Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Folklore geworden. Bis heute erliegen mitunter selbst gestandene Fachvertreter der verführerischen Komplexitätsreduktion des Durkheim’schen Ansatzes, ja der ganzen Soziologie auf diese Kurzformel. Durkheim selbst ging es um die theoretische Begründung einer objektiven und gegenüber den Individuen wirkungsmächtigen Realität sozialer Tatsachen und um eine empirisch abgesicherte Gewichtung von sozialen gegenüber nichtsozialen Kausalfaktoren für die Erklärung analytisch herauspräparierter sozialer Phänomene. Neben den realen sozialen Zwängen des sozialen Milieus und des sozialen Lebens existieren aber weiterhin materielle Zwänge und Einflüsse der physischen Umwelt und des biologischen Lebens. Das bestreiten weder Durkheim noch Weber.

[1a] René König begründet die bewusst gewählte abweichende Übersetzung u.a. mit Verweis auf Bemerkungen von Talcott Parsons damit, dass der Ausdruck „fait social“ bei Durkheim doppeldeutig sei und oft nicht im Sinne eines empirischen sozialen Phänomens, sondern im Sinne einer wissenschaftlichen Aussage über soziale Erscheinungen „in Termini eines begrifflichen Schemas“ gebraucht werde, wofür der Ausdruck „soziologischer Tatbestand“ der angemessenere wäre (König 1984, S. 38; Hervorh. weggel.). Diese Begründung ist nachvollziehbar, aber gleichwohl nicht überzeugend. Zudem müsste dann konsequenterweise von „soziologischen Tatbestandsaussagen“ die Rede sein, um die verbleibende Zweideutigkeit der Ausdrücke „Tatbestand“ bzw. „Tatsache“ zu eliminieren. Auch führt das zu weiteren sprachlichen Verwicklungen, wie die dann zwangsläufig an logischen und sachlichen Widersinn grenzende Aufforderung, die „soziologischen Tatbestände wie Dinge zu betrachten“ (Durkheim 1984, S. 115, 125f.), oder die Regel, die „bestimmende Ursache eines soziologischen Tatbestands [müsse] in den sozialen Phänomenen [gesucht werden], die ihm zeitlich vorangehen, und nicht in den Zuständen des individuellen Bewusstseins“ (ebd., S. 193; Hervorh. weggel.). Schwerer wiegt aber ein allgemeiner wissenschaftstheoretischer Einwand, auf den sich Parsons ja selbst beruft: Grundsätzlich treffen alle Theorien, also auch soziologische Theorien, nicht mehr naiv-realistische Aussagen über feststehende und sinnlich problemlos wahrnehmbare, quasi mit Händen greifbare empirische Phänomene, Gegenstände bzw. Wirklichkeiten, sondern ihre Aussagen sind konstruktive Aussagen innerhalb einer konzeptuellen Struktur von gedanklich (möglichst) geordnet aufeinander verweisenden Termini, Gegenständen und Sätzen, oder, um Hegel zu paraphrasieren, ihre Begriffe sind Begriffe, die sich als Begriff wissen. Das gilt auch für den Terminus „soziale Tatsache“ in Durkheims Soziologie (vgl. allgemein Quine 1980, S. 391 ff., 465 ff., und zum eigentümlichen Begriff der „Tatsache“ ebd., S. 424 ff.). Durkheims Regeln sind ein lehrreiches Beispiel dafür, wie eine neue Wissenschaft aus dem Geist der theoretischen Reflexion über wissenschaftlich angemessenere Zugriffe auf einen hyperpräsenten und zugleich schwer fassbaren, verstreuten Bereich von Phänomenen erwächst und sich zu diesem Zweck ihren Gegenstand und ihre Begriffe gedanklich zurechtlegt und zurechtlegen muss. Auch publikationspolitisch ist dieser Eingriff von König in Durkheims Terminologie nicht angemessen, denn solche stets umstrittenen Auslegungsprobleme der Begrifflichkeiten und der Disput um ihre Angemessenheit für verfolgte Fragestellungen sind bei einem klassischen Text der Diskussion innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu überlassen und nicht durch eine eingreifende Übersetzung vorab zu entscheiden, egal, wie man zu ihr im Einzelnen steht. – Ganz abgesehen vom Problem der Intransparenz für den Leser, der dann im Einzelfall bei den angebotenen Übersetzungen nicht mehr sicher wissen kann, was O-Ton ist und was Übersetzer-Ton, er also im Zweifelsfall dann doch im Original nachschauen muss, wie Durkheim selbst argumentiert.

[2] Dieser Gefahr unterliegen auch andere Denkweisen über soziale Realitäten. Der Vorwurf an die Soziologie, sie sei natur- und materialitätsblind, ist nämlich nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. In neueren sozial- und dekonstruktivistischen Strömungen der Soziologie stößt man immer wieder auf dezidiert antinaturalistische und antiessentialistische Positionen, die in kritischer, wenn nicht kämpferischer Attitüde jeder Verfestigung von Entitäten und des Redens über Entitäten entgegentreten und die durch andere Gründe, als wissenschaftliche, motiviert scheinen.

[3] Beispiele für ein solches beziehungsinduziertes Verhalten sind das Sich-selbst-Kratzen von Primaten und Menschen bei sozialen Stress- und Konfliktsituationen sowie die unter bindungssensiblen sozialen Tieren verbreiteten Formen von Körpermimikry wie das ansteckende Gähnen (vgl. de Waal 2009, S. 201, 256). Insbesondere bei Großstädtern kann man zahlreiche sozial- und informationsstressbedingte nervöse Ticks beobachten. Einem solchen Tick nähert sich die moderne verbale Ausdrucksseligkeit an, die auf den Informationswert des Redeflusses für Zuhörer keinen Gedanken verwendet, sondern dem unruhigen Gehirn durch sprachliches Verströmen psychische Erleichterung verschafft. Die mentale Übersteuerung durch Informationsflutung und Speicherpufferüberlauf ist Ursache für die intellektuelle und kommunikative Aufgedrehtheit gerade bei Wissensarbeitern und Schriftstellern, die eine Quelle ihrer Kreativität darstellt, ihnen aber auch schlaflose Nächte bereiten und ihre monologische Präsenz für Ko-Akteure, die eigentlich an Interaktion und Gespräch interessiert sind, unerträglich machen kann. Durch die digitalen sozialen Medien wird dieser einst einer literarisierten Elite vorbehaltene kommunikative Tick gesellschaftlich generalisiert und verstetigt zum Dauer-Streaming von Botschaften um der Botschaften willen. Immer mehr Menschen wirken verstört und zeigen Entzugserscheinungen, wenn sie einen Moment lang nicht kommunizieren oder auf keine Informationsofferten zurückgreifen können. Treffen zwei ausgesprochen kommunikationsstarke und ‑willlige Akteure aufeinander, kann man mitunter das Schauspiel des gleichzeitigen Aufeinanderein- bzw. Aneinander­vorbeiredens von Alter und Ego beobachten: Das Phänomen der doppelten Kontingenz steigert sich zum Problem der doppelten verbalen Inkontinenz. Die exzentrische Selbstreferentialität eines daueraufmerksamkeits­erheischenden Gegenübers muss man als modernes Subjekt tolerieren und mit Takt ertragen lernen, um vielleicht irgendwann in sozialen Situationen selbst wieder zum Zuge zu kommen und als Person in Erscheinung treten zu können.

[4] Die Tatsache, dass kognitiv komplexe Fertigkeiten und die sie begleitenden motorischen Fähigkeiten (wie die des schnellen und fehlerarmen Sprechens oder Schreibens) nur durch langes Lernen erworben und durch permanentes Training erhalten werden können, holt noch die größten Geister auf den Boden neurobiologischer Prozesse zurück. Wissen ist kein Schatz, der – einmal angehäuft – zur freien und jederzeitigen Verfügung steht, sondern es muss durch praktische Übungen und Techniken am sozialen Leben erhalten werden. Alle kulturellen Lernprozesse und sozialen Praktiken bleiben an Naturprozesse gekoppelt, die ihnen bestimmte Restriktionen (z.B. zeitlicher Art) auferlegen, so gestaltbar diese durch intendiertes Handeln sein mögen. Die Vielzahl an naturalen und zwingend notwendigen Erfüllungsbedingungen selbst noch der artifiziellsten menschlichen Leistungen macht es möglich, nach nichtsozialen Bedingungen von und nichtsozialen Einflüssen auf Handlungen zu forschen bzw. allgemeiner: nach naturalen Einbettungen sozialer Phänomene bzw. sozialen Einbettungen naturaler Phänomene im Menschen zu fragen. Die Expertise der Soziologie bewegt sich in einem besonderen Korridor phänomenalen Geschehens: den Aktionen von und den Interaktionen zwischen Akteuren. Gerade die methodologische, d.h. selbstbewusste, also weder selbstüberhebliche noch bornierte Engführung ihres disziplinären Blickes bildet die Voraussetzung und Basis einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit Nachbardisziplinen.

[5] Die in der Vergangenheit und im Alltag verbreitete Rede vom Menschen als einem Gewohnheitstier bringt die Erfahrungsregel zum Ausdruck, dass Handeln oft konditionierten Routinen und nicht bewusst und frei gewählten Intentionen folgt. Sich gewohnheitsmäßig zu verhalten, unterliegt in modernen Gesellschaften jedoch immer mehr der sozialen Ächtung. Die Neigung der „gewöhnlichen“ Menschen, in ihren Gewohnheiten und Trägheiten zu verharren, galt schon den Vernunftphilosophen Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte als eins der menschlichen Grundlaster, als eingekörperter Naturzustand. Sie sahen darin einen mangelnden Willen zum Willen und zur Freiheit, von der erst die Rede sein könne, wenn der Mensch – und das meinte damals: der Mann – sich selbst die Gesetze seines Handelns kraft Vernunftmaximen auferlegt, der autonome Selbstentwurf zur moralischen Pflicht erhoben wird.[5a] Diese inzwischen fast gesellschaftsweite Ächtung der Selbstgenügsamkeit und Gemächlichkeit im Namen des Wollens und Aktivseins hat zu einer eigentümlichen Blüte von individuellen Intentionalitätsbehauptungen geführt. Ja, es werden sogar Aktivitäten gerade deswegen entfaltet, um zu zeigen, dass man Pläne, Ziele und Intentionen hat und sein Leben als Projekt versteht. Geraten bestimmte Intentionen und Handlungen in die Kritik, werden Nichtintentionalitäts­beteuerungen bemüht. Was immer auch geschah, es steckte keine böse Absicht dahinter. Diese Intentionalitäts­behauptungen erstrecken sich sogar auf Handlungssituationen, deren Dynamik und Körpereinsatz geradezu ein Absehen von bewussten Intentionen verlangen, weil sie der völligen Hingabe an das Geschehen und dem motorisch antrainierten blinden Verständnis der Handlungs- bzw. Spielsituation nur im Wege stehen würden. Ein unterhaltsames Beispiel für die Diskrepanz zwischen der Logik des Spielens bzw. der praktischen Involviertheit und der kommunikativen Logik der Behauptung und Ergründung von Absichten bieten die Interviews mit Fußballspielern unmittelbar nach Abpfiff eines Fußballspiels. Die Interviews dienen – neben der Schaffung eines Vorwandes und Vordergrundes für die Einblendung von Sponsorenlogos – der Übersetzung von hochkontingenten Ereignissen in zweifelhafte Aussagen, die dann als Gesprächsrohstoff zu „Promi-Klatsch“ weiterverarbeitet werden können. Inzwischen dauert die kommunikative Vor- und Nachbereitung wichtiger Spiele genauso lange, wie das Spiel selbst. Die Fähigkeit der Menschen, zwischen den Verhaltensmodi Handeln und Kommunikation hin- und herzuswitchen, und die Fragwürdigkeit des Zusammenhanges zwischen dem einen Tun und dem anderen, bringt für die Soziologie viele methodologische Probleme mit sich.

[5a] Es war aber ein anderer Vernunftphilosoph, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der sich gegen eine Herabsetzung und Verächtlichmachung der Gewohnheit ausgesprochen hat. In dieser Nachrede drückt sich eine intellektuelle Überlegenheitsattitüde gegenüber der Ein- und Durchbildung unserer Leiblichkeit aus, obwohl wir doch ohne all die eingeübten Geschicklichkeiten unseres Körpers weder flüssig Noten spielen noch klug daherreden könnten. Erst aus dem, was man in ernster Absicht zur Gewohnheit erhebt, kann ein wirkliches Können erwachsen. Hegel wusste, dass Philosoph sein heißt, sich das Denken, Lesen, Schreiben und Sitzen zur Gewohnheit zu machen, sodass einem das Denken – wenn man es wiederum nicht damit übertreibt – zwar immer weniger Kopfweh bereitet, die früher erlernte Gewohnheit, aufrecht stehen und gehen zu können, aber darunter leiden kann und ein Spaziergang unter freiem Himmel zu einem außeralltäglichen Erlebnis wird. (Hegel 1986, § 409 f.)

[6] Zu dieser gegenüber den Naturwissenschaften offenen Lesart des Handlungs­modells von Weber vgl. Mayntz 2008.

[7] Die universelle Artifizierung der Weltverhältnisse schürt bei nicht wenigen Stadtbewohnern und Kulturwissenschaftlern den Glauben, in einer durch und durch künstlichen, zeichenhaften Welt zu leben, in der Natur verschwunden bzw. nur noch eine Randgröße ist. Das weckt in einigen von ihnen den Ruf nach einer Rückkehr zu mehr anschaulicher Natur, mehr Natur vom alten romantischen Schlage. Technische Produzenten und Naturwissenschaftlicher wissen dagegen oft nur zu gut, wie tief sie praktisch in Natur und in ihre eigenen Apparaturen verstrickt sind. Aber es ist eine ganz andere Natur, als die, die dem einzelnen Menschen durch seine leibeigenen Sinnesorgane zugänglich und erlebbar ist. Hält man sich an „Kommunikation“ als Grundbegriff der Soziologie und Elementarform des Sozialen, hat man es ebenfalls nicht mit einem immateriellen Phänomen zu tun. Der Kommunikationsvorgang selbst ist tief in komplexen neurobiologischen und motorischen Vorgängen verwurzelt, welche seine Verwirklichungs­bedingungen und Erscheinungsformen mitbestimmen, die eben nicht jederzeit und bei jeder Kommunikationssequenz einem „freien Willen“ oder einer rationalen Steuerungsphantasie Folge leisten. Es ist eine „gewisse Erregung des Gemüts“, die Gedanken hervorlockt und zur Sprache bringt, wie Heinrich von Kleist wusste: „Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß.“ (Kleist 1984, S. 458) Die unverzichtbaren Medien der Kommunikation greifen ebenfalls auf Naturgegebenheiten zurück (z.B. auf Bäume als Zellstofflieferanten, Frequenzen bestimmter Wellenlängen) und wirken in diese hinein. Nur weil „Sinn“ der Materialisierung bedarf, kann es zum Streit zwischen Nachbarn über die Lautstärke dessen kommen, was der eine für selbstwertsteigernde Musik, der andere für ruhestörenden Lärm hält. Von beiden Zuschreibungen ist nicht die eine wahrer oder falscher als die andere. Und es handelt sich nicht bloß um ein Phänomen der sozialen Zuschreibung, der kulturellen Definition. Eine Schädigung des Trommelfells bleibt eine mögliche kausale Folge, ist dann aber eher ein Fall für den Ohrenarzt. Für Soziologen und Sozialpsychologen ist es verlockender, der Frage nachzugehen, woher diese Asymmetrisierung der soziosomatischen Empfindsamkeiten herrührt, die man allenthalben auf allen Sinnenkanälen beobachten kann. Warum erlebt die eine Teilpopulation eine musikalische Sinnmaterialisierung erst dann, wenn auf der Laut&Leise-Skala der Geräuschrezeption die Stärke und Klangform der selbst gewählten Schallwellen an Stahlgewitter erinnern, während eine andere Teilpopulation dem sich stetig ausbreitenden menschlichen Geräuschteppich zu entfliehen versucht und nur noch akustisches Glück erfährt, wenn sie das Gras wachsen hören kann?

[8] Hier lagen die vieldiskutierten Reibungspunkte zwischen der Marx’schen und Weber’schen Tradition und ihrem Verständnis der Grundformen menschlichen Handelns: (materiell-gegenständliche) Arbeit und (soziale) Interaktion. Empirisch fließen beide Formen oft ineinander. Die Untersuchung von Arbeitskulturen zeigt, dass selbst Arbeit Züge von Interaktionen mit Subjekten annehmen kann, wenn sich die Naturentitäten, Arbeitsgegenstände, Nutztiere oder Maschinen als eigensinnig erweisen bzw. ihnen ein Eigenwillen zugeschrieben wird, den es zu respektieren gilt (vgl. Spittler 2002), und soziale Beziehungen können einen technisch-instrumentellen Charakter annehmen oder als so verfasst erlebt und gedeutet werden – wie in Aristoteles’ Definition des Sklaven und Dieners als lebendiges Werkzeug des Herrn. Auch evolutionstheoretisch besteht bei der Menschwerdung des Affen ein enger Konnex von Interaktion und Arbeit, der für den historischen Wandel des Verhältnisses der Menschen zur Natur von Belang ist. Gerade die von hochentwickelten sozialen Organismen mit Zentralnervensystem ausgeprägten Fähigkeiten zur – allerdings beschränkten, kulturselektiv formierbaren und deformierbaren – Perspektivenübernahme, Nachahmung, Kooperation und Konfliktbewältigung prädestinieren diese Organismen dazu, ihre sozialen Kompetenzen und Erfahrungen auf Naturentitäten und den Umgang mit ihnen zu übertragen und sie als Naturkräfte zu durchschauen, die man bei aller Widerspenstigkeit zur Realisierung eigener Zwecke gezielt aneinander abarbeiten und einander in die Schranken weisen lassen kann. Siehe dazu die schöne Passage in Karl Marx’ „Kapital“ (1983, S. 130 f.) inklusive dem Hegel-Zitat zur listigen wie mächtigen Vernunft. Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung dürfte hinter der Bedeutung der Entwicklung der sozialen Interaktionsfähigkeit und ihrer kognitiven Voraussetzungen und Stimulationseffekte zurückstehen. Schon der einfache Werkzeuggebrauch ist eine kognitiv voraussetzungsvolle Art instrumenteller Perspektivenübernahme im Reich des Materiellen. In gesteigerter Form gilt das für Maschinen oder wissenschaftliche Experimente. Insofern wären, evolutionstheoretisch gesprochen, die menschlichen Fähigkeiten zur reflexiven Sozialität, zum Selbst- und Fremderkennen sowie zur Instrumentalisierung und Manipulierung von Natur- und Umweltgegebenheiten als gleichursprünglich anzusehen, als Ausdruck der zwangsläufigen Evolution von Verschlagenheit in komplexen sozialen Umwelten, die auf den praktischen Umgang mit Natur übergreift. Das erklärt die in Wildbeuter- und frühen Ackerbau-Kulturen verbreiteten Gewissenskonflikte, die mit den – nach heutigen Maßstäben bescheidenen – Eingriffen in Naturprozesse einhergehen und durch kollektive Versöhnungsrituale zwischen Mensch und Natur bewältigt werden müssen. Die Jäger, Sammler und Ackerbauer sind von Ehrfurcht gegenüber einer Kultur und Natur gleichermaßen umspannenden kosmologischen Ordnung erfüllt, in der sie nur ein Wesen unter vielen sind und die sie nicht einfach zu ihren Gunsten verändern können, ohne Strafen der anderen Mächte fürchten zu müssen, die dieser Ordnung wie sie selbst angehören. Erst nach und nach macht die Ent-Gesellschaftung, Naturierung und Ent-Seelung der Natur (Luckmann 1994, S. 212) schließlich den Weg frei für die universelle und rücksichtslose Aneignung der Natur, die glaubt, ihre Grenze nur noch in den Grenzen des Naturmöglichen, des Machbaren und der Technik zu finden. Der für den Listenreichtum gebräuchlich gewordene Begriff „Intelligenz“ lässt die kognitiven Fähigkeiten der Menschen unproblematischer erscheinen, als sie in manchen Handlungsfeldern sein können, und bedient das populäre Vorurteil, davon könne ein Mensch nie zu viel haben. Insofern kann es schon verwundern, mit welch zum Teil naiver Emphase der Ausbreitung intelligenter Technologien das Wort geredet wird. Mit smarten Technologien und Algorithmen lässt sich prima betrügen und manipulieren, wie wir inzwischen wissen.

[9] Diese konzeptionelle Engführung ist dennoch nicht so abwegig, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Zum einen geht es Weber um die wissenschafts­methodische Bestimmung des für diese spezielle Wissenschaft grundlegenden Phänomenbereiches. Zum anderen schließt diese Festlegung nicht kategorisch aus, mit guten Gründen darzulegen, warum auch das instrumentelle Handeln des Menschen gegenüber Natur und Objekten quasisoziale Qualitäten aufweist, insofern es die über Sozialitätsanforderungen mitkonstituierten Sinnorientierungen und Reflexionskompetenzen sind, die diesen instrumentellen Umgang mit Naturentitäten befördern und befeuern. Insbesondere die neuere Entwicklungspsychologie und Neurobiologie konnte zeigen, wie sehr die sozialen und instrumentalen Verhaltensmodalitäten auch natural, d.h. neuronal miteinander verschränkt sind und einander stimulieren. Bereits Georg Simmel hat in Fortführung der Ideen Hegels ein evolutionistisches Modell der wechselseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt skizziert, das die Entwicklung der Welt- und Sozialbeziehungen des Menschen als einen fundamental miteinander verwobenen Prozess begreift, den die Menschheit als Ganzes und jedes Individuum durchläuft (Simmel 1989, S. 30 f.).

[10] Diese im Grunde triviale, aber wichtige und oft vergessene Einsicht bildet eine zentrale Säule der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, der auf der Anerkennung des Beitrages aller Entitäten zum Gelingen einer Handlung insistiert und für diese Entitäten, die mit den Menschen soziotechnische Kollektive bilden, den Begriff der Aktanten eingeführt hat. „Handeln ist nicht das Vermögen von Menschen, sondern das Vermögen einer Verbindung von Aktanten [...].“ (Latour 2000, S. 221) Demnach ist es nicht der Pilot oder eine Boeing 747, der bzw. die fliegt, sondern es sind „die Fluggesellschaften, die fliegen“ (ebd., S. 236). Der Wissenschaftshistoriker Latour zeigt sich sichtbar beeindruckt von der unerhörten Vermehrung der durch die Natur- und Technikwissenschaften entdeckten und geschaffenen Entitäten und Hybride, die in der Alltagssprache und der Sprache der Philosophie nur unzureichend repräsentiert werden. Würde man aber mit diesem Vollständigkeitsanspruch wirklich ernst machen, käme man mit einer Aufzählung der Entitäten und ihres komplexen Zusammenwirkens nicht mehr zu einem absehbaren Ende, hätte es also mit dem Problem des regressus ad infinitum zu tun. Gerade unser exponentiell gestiegenes Wissen über Natur hat das Problem der (noch) verantwortbaren Abstraktion, Vereinfachung und Weglassung bei der Darstellung von Weltausschnitten ins Extrem gesteigert und die Wahrscheinlichkeit von Kategorienfehlern weiter erhöht. Der Selektivität von Kommunikation kann keine noch so sehr aufs Ganze gehende Theorie oder Empirie wirklich entkommen. Das Problem kann man mit Hybridbegriffen und kosmologischen Metaphern kaschieren, aber nicht beheben. Im Fall von komplexen technischen Systemen wird diese Selektivität und die Möglichkeit von Fehlern und nichtintendierten Effekten zu einer zunehmenden Herausforderung, weshalb man vermehrt auf selbstlernende Algorithmen und Maschinen, also auf bewährte Mechanismen der umweltsensitiven Evolution von intelligentem Verhalten setzt – was aber wiederum neue Formen von Intransparenz, Kontingenz und Unbeherrschbarkeit erzeugt. Wichtiger ist: Eine strikt symmetrisierende Sichtweise auf das Zusammenwirken von nichtmenschlichen und menschlichen Wesen verwischt den je nach Kollektiv unterschiedlichen Charakter der Beiträge von Natur, Technik und Akteuren zum Vollzug von Handlungen, der von hoher praktischer und juristischer Relevanz ist. Die soziotechnische Struktur der modernen Kollektivbildungen bekommt man nur durch eine differenzierte Theorie und Empirie der verteilten Handlungsträgerschaft in den Blick (siehe dazu Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Rammert 2007; Schulz-Schaeffer 2007; zur Diskussion von Latours Ansatz vgl. Kneer u.a. 2008). Gerade aus soziologischer Sicht ist es interessant, genauer zu erforschen, wie sehr sich Akteure bewusst oder unbewusst auf Technik stützen, wie weit sie bei der Delegation von Handlungsprogrammen an technische Artefakte gehen und wie illusionär oder reflektiert ihr Vertrauen in die Technik ist. Da in dieser Hinsicht zwischen den Akteuren ausgeprägte Asymmetrien bei Wissen, Kompetenzen, Zugangsrechten, Handlungschancen, Betroffenheiten und Wertvorstellungen bestehen, sind Konflikte vorprogrammiert. Man kann sich auch gegenüber kulturellen und technischen Artefakten in einer völlig macht- und aussichtslosen Lage wiederfinden.

[11] An dieser Tatsache entzündet sich immer wieder von Neuem der Streit um die Konzeptualisierung des Einflusses physischer Umweltfaktoren auf das menschliche Handeln. Die Frage ist ja nicht nur, ob diese Faktoren Handeln im weitesten Sinne beeinflussen (was Weber nicht bestreiten würde, was aber in dieser allgemeinen Fassung keinen Erklärungswert hat), sondern vor allem wie (und mit welchen Konsequenzen): direkt als physische Entitäten (Steinschlag als Ereignis) oder vermittelt über die Deutungen und Praktiken der Akteure (Warnschild: Vorsicht, Steinschlaggefahr!). Viele, wenn auch beileibe nicht alle Effekte von Naturentitäten auf das Handeln von Akteuren stehen unter einem Evidenz-, Erfahrbarkeits- und Berücksichtigungsvorbehalt: erst als erkannte, anerkannte oder vermutete „Fakten“ beeinflussen sie das Handeln der Akteure, und dies je nach Akteur und Kontext in unterschiedlicher Weise. An der Asymmetrie zwischen dem lokalen Wissen der Einheimischen und dem Nichtwissen der Touristen über Lawinen (und andere Gefahren der Bergwelt) in alpinen Skiorten zeigt sich immer wieder aufs Neue, dass sich die Menschen auch darin unterscheiden, ob Naturwissen für sie handlungsrelevant ist oder sie Naturereignissen im wahrsten Sinne des Wortes blind zum Opfer fallen. Akteure sind zudem zu Handlungen wider besseren Wissens fähig. Darauf reagieren die örtlichen Behörden mit Überwachungssystemen, Planier- und Pistenraupen, Beton, Liftanlagen und Lawinensprengungen, um die Bergnatur dem Wissens- und Erwartungshorizont der zahlenden Gäste anzupassen. Natur kann also auch durch die Anerkennung und Bewahrung von menschlichem Nichtwissen zerstört werden. Auf Aufklärung allein will man sich nicht verlassen, zumal sie keine wirtschaftlichen Impulse verspricht und im Schadensfall nicht vor langwierigen juristischen Auseinandersetzungen schützt. Marktwirtschaftliche Sozietäten sind zudem fortlaufend auf der Suche nach Verwertungs- und Investitionsmöglichkeiten, nach Arbeit, Beschäftigung und Konsumanreizen, egal wie sinnvoll diese sind. Die permanente Ankurbelung des Tourismus ist zu einer systemischen Marketing­strategie geworden, um sich möglichst viele Vollzeitkonsumenten auf Leihbasis zu verschaffen, denn Touristen sind nun mal die umsatzträchtigsten Konsumenten, da sie, einmal mobilisiert und entwurzelt, mehr und zusätzliche Ressourcen und Dienstleistungen brauchen, als sie benötigen würden, wenn sie zu Hause blieben. Das setzt alle Orte unter Druck, denn der temporäre Abfluss der eigenen Konsumenten muss ausgeglichen, am besten überkompensiert werden. Immer mehr Regionen sehen sich dazu gedrängt, durch die Erfindung und Vermarktung von Attraktionen aller Art Touristen als temporäre Leih-Konsumenten anzulocken, die vor allem eins sollen: ihr Geld dalassen (und sich dabei wohlfühlen). Insbesondere strukturschwache Regionen, die eher Natur als Kultur zu bieten haben, sehen sich dem Zwang ausgeliefert, dem boomenden Städtetourismus und dem Abfluss der lokalen Kaufkraft über kommerzielle Internet-Portale irgendetwas entgegenzusetzen, und seien es zu Events stilisierte Naturerlebnismöglichkeiten. Deshalb trifft die Vorstellung einer bloßen Naturbewahrung durch Rückzug und Inaktivität des Menschen in touristischen Destinationen auf besonders hartnäckigen Widerstand oder schlichtes Unverständnis. Überhaupt ist eine Außerwertsetzung von Natur das unwahrscheinlichste Szenario, wie die aktuelle Debatte über das „Naturkapital“ und dessen Bilanzierung zeigt.

[12] Es gibt selbstverständlich auch das umgekehrte Phänomen: das Heraustreten bzw. Herausdriften von einst sinnbesetzten Entitäten oder einst gewusster Sinnbestände aus dem Horizont des Wissens und Wollens. Selbst einem Kulturmenschen können Dinge und Praktiken so sehr in Fleisch und Blut übergehen, dass sie als Habitus wieder zu einer Art vorreflexiver Leib-Natur werden, wie Pierre Bourdieu gezeigt hat. Dieser Inkorporation von Sozialverhältnissen mit wacher Herrschaftskritik zu begegnen, ist durchaus geboten, kann aber, zum antinaturalistischen Dauerprogramm intellektueller Selbst- und Fremdüberwachung zwecks Abwehr jeglicher Form von „symbolischer Gewalt“ erhoben, ziemlich anstrengend werden, weil dies die Anlässe für Verdachtsmomente erheblich vermehrt und zur Ausweitung von (Selbst-)Kontrollpraktiken führen kann. Auch dem Spiel der Natur entrinnt keiner. Es kommt immer auf die Art des Spiels an.

[13] Dazu kanonisch Marx’ (1983) Darstellung der allgemeinen Momente des Arbeitsprozesses im „Kapital“. Die Usurpierung, Kolonisierung und Umgestaltung von Natur wird durch die modernen biotechnologische Eingriffe in die Grundlagen der Lebensprozesse noch einmal deutlich zunehmen. Ein Ende der menschlichen Einmischungen in Naturprozesse ist nicht in Sicht. Die Phantasien eilen den technischen Möglichkeiten weit voraus und spornen zu immer neuen Interventionen an. Vom Drang oder Zwang zur präferenzengeleiteten Regulierung der Naturverhältnisse kann sich selbst ein großer Teil der Naturschutz­bemühungen nicht freimachen. Viele gutgemeinte Argumente erweisen sich bei näherer Betrachtung als bemüht, einseitig oder wertgebunden, sind also leicht anfechtbar. Naturschützer müssen auf Argumente der Inwertsetzung oder Beschäftigungssicherung zurückgreifen, um für ihr Anliegen öffentliche Legitimität zu beschaffen und den Raubbau an der Natur abzubremsen. Der moderne Naturschutz hat sich in Richtung eines lokalen und globalen Naturmanagements entwickelt, das die natürlichen Ressourcen und die ökologische Vielfalt für künftige Nutzungen erhalten soll. Die Natur ist zur wissenschaftlich und rechtlich verwalteten Natur geworden, die einem permanenten Monitoring unterworfen wird. Eine lückenlose taxonomisch-systematische Dokumentation der Besiedlung von Bauwerken durch Algen, Flechten, Moose und Farne kann für notwendig erachtet werden, weil eine „optische Beeinträchtigung von Fassaden und Außenbauteilen durch biologischen Aufwuchs“ in einer modernen Gesellschaft nicht einfach hingenommen werden muss (Hofbauer u.a. 2003). Andernorts wird dagegen die Haus- und Dachbegrünung zum lebenssinnstiftenden und umweltverbessernden Projekt erhoben. Sowohl Eingriffe als auch Nichteingriffe in Naturprozesse unterliegen der Begründungs- und Genehmigungspflicht. Veränderungsprozesse in der Natur, die nicht auf menschliches Handeln zurechenbar sind, werden daraufhin geprüft, ob es sich um hinzunehmende, abzuwehrende oder zu justierende Eigendynamiken handelt. Sobald Menschen und ihre Besitztümer durch Naturereignisse zu Schaden kommen, schlägt die Stunde der Mahner, Experten, Ingenieure und Versicherungsvertreter. Selbst die ökosystemische Sichtweise kann als Rechtfertigungsgrundlage dafür dienen, die „wilden“, indifferenten und chaotischen Seiten des Naturgeschehens im Namen der Bewahrung von stabilen Gleichgewichten, diversifizierten Lebensräumen und Artenproporz auszuschalten. Zur Kritik an der Ökosystemisierung der Natur siehe z.B. Reichholf 2008.

[14] Analoges gilt für Handlungen und Beziehungen, die sich ebenfalls nicht in den Bedeutungszuschreibungen der involvierten Akteure erschöpfen. Eine auf die Erforschung von Deutungsprozessen reduzierte Soziologie wäre eine defizitäre Soziologie. Die komplexen Bewegungsmuster von Fußgängern und Nichtfußgängern in Verkehrsinfrastruktursystemen umfassen einen weiten Horizont von Ereignissen und Interaktionseffekten zwischen den Akteuren und zwischen ihnen und Umweltelementen, die über die Sinngebungsprozesse, Intentionen und kulturellen Skripte der Individuen und Verkehrsplaner hinausgehen. Sichtbare Spuren hinterlassen sie z.B. in Form von Trampelpfaden jenseits des planerischen Wegebaus. Sind sie erst mal ausgetreten, haben sie etwas Anziehendes bar aller Vernunftreflexion. Dagegen kann man mit Absperrungen und Abpflanzungen vorzugehen versuchen. Oder man ergibt sich der Macht des Faktischen und versiegelt auch noch diese Pfade des nonkonformen Gehens. Ist der Weg dann asphaltiert, legen eine gefühlsbetonte Aktantenbeziehung zu ihren Knien unterhaltende Jogger gleich daneben einen neuen Trampelpfad an.

[15] Nicht wenige Autoren, die sich an der Überwindung des für das westliche Denken angeblich typischen Dualismus von Natur und Kultur bzw. von Natur und Gesellschaft abarbeiten, ziehen sich auf Beschreibungen von Aktanten-Netzwerken oder „nexuses of human practices and material arrangements“ zurück (vgl. Schatzki 2010). Die deskriptive Versuchung, den begrifflichen, theoriebautechnischen und kausalanalytischen Fragen durch Liebe zum Detail, Versenkung ins Ereignishafte und das unabschließbare Streben nach vollständiger Erfassung der Fülle des Lebens aus dem Weg zu gehen, ist groß.

[16] Der methodologische Individualismus Webers steht nicht allein im Dienst der Vermeidung des leichtfertigen Umgangs mit Kollektivbegriffen oder der Wiederherstellung der Würde des Individuums, sondern führt gerade zu einer Problemverschärfung im Hinblick auf eine sachadäquate Beschreibung und Erklärung der allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit von Sozial- und Kollektivbildungen aller Art und ihrer evolutionären Grundlagen und Ausprägungen. Erst der methodologische Individualismus zwingt dazu, das Soziale als das äußerst vorraussetzungsvolle Rätsel bzw. nichttriviale Geschehen zu begreifen, das es ist – so wie erst der methodologische Atheismus dazu zwingt, die Religionen und ihre Entstehung als das große Rätsel der Selbstauslegung und Selbstüberhöhung des Menschen zu fassen. Leider wird der methodologische Individualismus Webers oft als ein ontologischer Individualismus oder vormodern gedachter Atomismus fehlinterpretiert, gegenüber dem dann diverse Formen eines klug gemeinten Holismus in Anschlag gebracht werden, die das Individuum als einen irgendwie gedachten Knoten oder Durchgangspunkt in einem Netzwerk von Entitäten auffassen – als ob Weber je behauptet hätte, Individuen seien sich selbst genügende Monaden oder unteilbare Atome, statt vergesellschaftete Dividuen. Es geht schlicht um die grundlegende Anerkennung der existenziellen Einzelheit (und ggf. auch Eigenart) jeder lebenden Entität im Hier und Jetzt und in dieser biochemischen Komposition, der auch eine konstitutive Bedeutung für ihre Umwelt- und Mitweltbeziehungen zukommt. Bislang ist auch jeder Mensch als Lebewesen noch gezwungen, sich als verkörperte Einzelgestalt durchs Universum zu schlagen. Alles Generelle, Überindividuelle hat sich insofern am Einzelnen zu bewähren.

[17] Gerade in konstruktivistischen und postkonstruktivistischen Stellungnahmen zu Körperphänomenen findet man jedoch mitunter eine Rhetorik der Unterstellung, naturwissenschaftliche Sichtweisen auf den Menschen würden die individuellen Freiheits- und Selbstgestaltungsansprüche allein schon durch die Behauptung von Tatsachen, Abhängigkeiten und Gesetzen unzulässig einschränken oder in bestimmten Unterscheidungen würden sich Dichotomien verbergen, z.B. in der für „problematisch“ gehaltenen Unterscheidung zwischen Sex und Gender die Dichotomie bzw. der Dualismus zwischen Natur und Kultur (so Villa 2006, S. 64–75). Und Dichotomien gelten als fatal, gerade in pluralen und offenen Gesellschaften. Wenn allerdings die Unterschiede zwischen Unterscheidung, Dichotomie und Dualismus nicht mehr kommunizierbar sind, regrediert die wissenschaftliche Diskussion zu einem Kampf um den rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Gebrauch von Worten. Es gibt tatsächlich sozialwissenschaftliche Milieus, in denen das Wort „Natur“ und seine Ableitungen einen so schlechten Ruf genießen, dass man mit Protesten rechnen muss, wenn man sie benutzt. Das schürt bei Kritikern des Sozialkonstruktivismus wiederum den Verdacht, er treibe im Einklang mit der industriegesellschaftlichen physischen nur eine kulturelle Assimilation aller Naturgegebenheiten voran (Kidner 2000). Das sind alles andere als abstrakte, weltfremde Probleme: Soll man bei der Erprobung und Ausgestaltung seiner körperlichen und seiner Geschlechtsidentität so weit gehen dürfen, auch das physische Aussehen oder die Geschlechtserscheinung dauerhaft oder nur auf Probe durch operativmedizinische Hilfe anderer den eigenen (Wunsch-)Vorstellungen von dieser Identität und ihren körperlich-ästhetischen Manifestationen anzupassen? Diese Fragen bewegen inzwischen bereits die Gedankenwelt von pubertierenden Jugendlichen. Auch konstruktivistisches Denken kann nichtintendierte Folgen zeitigen. In diesem Fall nur auf die besondere Identitätskrisensituation der Pubertät, die mit einer tiefen körperlichen Verunsicherung einhergehen kann, oder mögliche falsche Einflüsterungen durch die Medien zu verweisen, greift zu kurz. Es geht um die Frage der Umgestaltbarkeit der eigenen körperlichen Verfasstheit, die Eingriffstiefe in die eigenen naturalen Gegebenheiten, für die es keine dauerhaften technischen Grenzen und allgemeinverbindlichen moralischen Normen gibt (van den Daele 2000). Radikalkonstruktivistische Konzepte generalisieren und privatisieren die Erwartung einer Emanzipation des Individuums aus allen naturalen und menschengemachten Zwängen und Zumutungen und fordern das Recht auf Selbstverwirklichung und Grenzüberschreitung in allen sich neu auftuenden (Um-)Gestaltungshorizonten der menschlichen Natur ein. Freiheit wird als De-Naturierung resp. De-Essentialisierung von Sozialem und Naturalem konzipiert. Wenn schon Fakten, dann sollen sie kontingent und revidierbar sein. Eine Gesellschaft mit individualistisch gedachten Selbstbestimmungs- und Verfügungsrechten bildet auch einen guten Nährboden für die plastische Schönheitschirurgie. Das biopolitische Konfliktfeld des biotechnologischen Zeitalters spannt sich zwischen den Leitunterscheidungen Transhumanismus und Biokonservatismus auf (Dickel 2008).

[18] Dass es alles andere als banal und folgenlos ist, ein Verhältnis zu sich selbst zu haben, bemerkten schon Karl Marx und Friedrich Engels sowie andere Gelehrte vor ihnen, die sich auf den schwindelig machenden Pfad der Selbst- und Ich-Erkundung sowie der Frage nach der Natur der Bewusstheit, d.h. des bei fast jedem Individuum auftretenden Phänomens des Selbstgewahrwerdens und Echtzeiterlebens begaben. „Wo ein Verhältnis existiert, da existiert es für mich, das Tier ‚verhält‘ sich zu Nichts und überhaupt nicht. Für das Tier existiert sein Verhältnis zu andern nicht als Verhältnis.“ (Marx/Engels 1969, S. 30) Diese Aussage muss heute vor dem Hintergrund des modernen Wissens über die Leistungen von Tieren sicherlich relativiert werden, markiert aber treffend den engen Konnex bei der Evolution von Gehirn, sozialen Verhältnissen und Selbstverhält­nissen. Ein Schlüsselphänomen des Hinübergleitens ins irritierende Existenz­bewusstsein stellt das Selbsterkennen im eigenen Spiegelbild dar, das auch bei anderen hochsozialen Tieren auftritt.

[19] Diese Unterscheidung der Aspekte des Selbst bzw. der Identität geht auf George Herbert Mead (1993, S. 177 ff.) zurück.

[20] Gesa Lindemann (2002) hat am Beispiel der Intensivmedizin untersucht, wie der Körper des Patienten mit seinen vitalen, leiblichen und neuronalen Regungen als eigenständiges, eigenaktives, nicht klar lokalisierbares – wie sie es nennt: ou-topisches – Gegenüber in einer medizinischen Praxis fungiert, in der es im buchstäblichen Sinne um Leben und Tod eines Organismus und einer sozialen und rechtlichen Person geht. Die Mediziner sehen sich in dieser Praxis dem Problem gegenüber, wie die (Nicht-)Reaktionen des Körpers eines komatösen und sedierten Intensivpatienten zu deuten sind: als Ausdruck seines Lebendigseins (oder einer lebensbedrohlichen Verschlechterung seines Zustandes), seiner leiblichen Empfindungsfähigkeit, eines Verhaltens, gar einer Handlung, die auf ein vorhandenes oder wiederkehrendes Bewusstsein schließen lässt, oder als letzte Zeichen für seinen definitiven (Hirn-)Tod, der einen Abbruch der lebenserhaltenden technischen Maßnahmen – auch im juristischen Sinne – rechtfertigt. Obwohl die professionelle Hauptaufmerksamkeit des medizinischen Personals dem Erhalt und der Überwachung der vitalen Lebensfunktionen eines organischen Körpers gilt, vertritt dieser Körper zugleich eine soziale und rechtliche Person, wird dieser Körper auch als Akteur behandelt, gegenüber dem man bestimmte Grundformen des Anstands und Respekts wahrt. Mit Blick auf Webers Terminologie kann man also sagen, dass das medizinische Personal die definitorischen Unterscheidungen zwischen Leben, Verhalten und Handeln in seiner Arbeit praktisch handhaben muss, allerdings im Rahmen einer medizinischen Wissensordnung und daher z.T. in anderen Begriffen als handlungstheoretischen sowie unter Zuhilfenahme von Geräten und Apparaturen, um sich nicht allein auf den eigenen Augen- und Ohrenschein verlassen zu müssen. Dabei verzichtet es gleichwohl nicht einfach auf die Beobachtungs- und Umgangsweisen, die in alltäglichen Interaktionen der wechselseitigen Bezugnahme und Handlungskoordination von Akteuren dienen.

[21] Bereits Georg Simmel war sich der Versuchung zum universellen Soziologismus bewusst. „Da der Mensch in jedem Augenblick seines Seins und Tuns durch die Tatsache, daß er ein gesellschaftliches Wesen ist, bestimmt sei“ – oder wie man heute zu sagen pflegt, alle seine Lebensäußerungen und Hervorbringungen sozial konstruiert sind –, „schienen alle Wissenschaften vom Menschen [...] in die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Leben zurückzuschmelzen“. Deshalb die historischen und Geisteswissenschaften zu „Teilen der Soziologie“ zu erklären, hat er jedoch als „phantastische Überspannung des Soziologiebegriffes“ zurückgewiesen (Simmel 1984, S. 15 und 17). Die modernen Natur- und Lebenswissenschaften sorgen zudem für einen immer breiteren und differenzierteren materiellen Unterbau für den Überbau der Geistes- und Sozialwissenschaften, der dadurch noch mehr wissenschaftliche Solidität gewinnen kann.

[22] Die in aktuellen soziologischen Publikationen recht häufig zu findende Kritik am Essentialismus hat seinen wissens- und wissenschaftspolitisch wahren Kern in der Ablehnung eines verdinglichten, entkontextualisierten oder gar politisch-strategischen Gebrauchs von Begriffen und Kausalbehauptungen. Wird diese Kritik aber selbst in einer pauschalen, entkontextualisierten Weise und nur unter Berufung auf eigene Wertprinzipien und politische Überzeugungen geübt, hebelt sie die Standards einer Wirklichkeitswissenschaft aus. Kein Begriff ist davor gefeit, zu einer bloßen „Kampfvokabel“ zu werden. (Hacking 1999)

[23] Die nachfolgende Aufzählung sozialer Formen von Ausleseprozessen folgt nicht ganz der Begriffsverwendung Webers, der „Auslese“ allgemein in Abgrenzung zu intendierten Formen des Kampfes definiert als den „ohne sinnhafte Kampfabsicht gegen einander stattfindende[n] (latente[n]) Existenzkampf menschlicher Individuen oder Typen um Lebens- und Ueberlebenschancen“ (Weber 1980, S. 20). Diese sozialökologische Grundbestimmung von „Auslese“ vorausgesetzt, wird verständlich, warum Weber die biologische Auslese für prinzipiell und die soziale Auslese „nach aller bisherigen Erfahrung“ empirisch für unausschaltbar hält (ebd., S. 21). Ein gewisser Auslese- oder Differenzierungseffekt ergibt sich nämlich allein schon aus der Tatsache der diversifizierten biologischen Konstitution und sexuellen Reproduktion der Menschen sowie aus der Tatsache, dass jedes Handeln zum einen von Umweltgegeben­heiten abhängig ist und zum anderen das Handeln und Leben anderer Akteure beeinflusst. Diese „Zwangsläufigkeit“ materieller Wirkbeziehungen gilt so nicht unbedingt für soziale und politische Kämpfe und deren Formen. Diese können sogar gerade darauf abzielen, Zwänge aufzubrechen und Folgen des Handelns zu kontrollieren oder zu kompensieren. Gleichwohl spielen diese sozialen und biologischen Ausleseprozesse in die intendierten Kämpfe und Konflikte hinein, und die sozialen und politischen Kämpfe und Konflikte haben Auswirkungen auf die sozialen und biologischen Ausleseprozesse. Deshalb sind diese Prozesse das Feld vielfältiger biopolitischer Interventionen von oben und von unten, ohne sie vollkommen „beherrschen“ zu können. Um das zu erreichen, müsste man alle Zufälle des Lebens und Überlebens von Individuen kontrollieren können. Viele lebenswissenschaftliche Bemühungen gehen in diese Richtung, auch auf individueller Ebene der „Natur“ ihre „Launen“, Unwägbarkeiten und „Ungerechtigkeiten“ bei der Verteilung ihrer Gaben auszutreiben – mit beeindruckendem und begrenztem Erfolg, wie jede Grippewelle zeigt.

[24] Weber begibt sich hier allerdings auf eine andere Betrachtungsebene, wie er selbst einräumt: der Auslese bzw. der Überlebenschancen von sozialen Beziehungen (bzw. sozialen Ordnungsbildungen allgemein), nicht von einzelnen Individuen. Bei sozialen Beziehungen könne jedoch nur in einem übertragenen Sinne von Auslese die Rede sein, denn diese werden ja in einem erheblichen Maße bewusst gestaltet (Weber 1980, S. 21). Beim sozialen Wandel von Beziehungen und Ordnungen findet die populationsökologische Rede von „Auslese“ ihre Grenze, weil die zentralen Evolutionsmechanismen andere werden. Aber auch hier gibt es einen Überschuss an nichtintendierten Folgeereignissen intendierten Handelns, kommt es zumeist anders, als man denkt. Es hängt nicht allein vom Willen einzelner Individuen ab, welche Beziehungen und Ordnungen nicht nur möglich sind, sondern wirklich werden – und von Dauer bleiben. Deshalb bilden Paarbeziehungen die kleinste Zelle sozialer Kontingenz.

[25] Die Zunahme von Einpersonenhaushalten hat vielfältige ökologische Nebenfolgen, steigende Bildung und verlängerte Ausbildungszeiten beeinflussen die Geburtenrate, die Entscheidung für Nachwuchs und das Risikoprofil bei Schwangerschaften.

[26] Durch die Optionssteigerung nehmen die Verstrickungen nicht ab, sondern eher zu: in Natur- und Technikprozesse, in existenzielle Entscheidungsdilemmata, in heterogene Wissensregime von Experten sowie in ethische und rechtliche Regelsysteme. Dies wird von Nichtexperten zunehmend als Belastung empfunden. Gerade Experten sind oft blind für diese schlichte, aber folgenreiche Tatsache der Überforderung von Nichtexperten durch spezialisiertes Expertenwissen, wissenschaftliche Risikoanalysen, juristische Regulierungen, komplexe Zusammenhänge und intransparente technische Geräte. In hochentwickelten Wissensgesellschaften können die angehäuften heterogenen Wissensbestände ohnehin nicht mehr durch Einzelindividuen angeeignet und gemanagt werden, wird Nichtwissen des bereits Wissbaren zum Normalfall (dem mit technischen Erleichterungen beim Zugang zu den inzwischen riesigen Wissensarchiven begegnet wird). Das hält die Sehnsucht nach einfachen Antworten und Lösungen wach. Der Verankerung eines Rechtes auf Nichtwissen im Gendiagnostikgesetz kommt in diesem Zusammenhang mehr als nur eine datenschutzrechtliche Funktion zu. Auch im Fall der Patientenverfügung geht es um die selbstbestimmte Begrenzung des nach Expertenmeinungen Wiss- und Machbaren, also um die kalkulierte Einsicht in die Möglichkeit zu Indifferenz oder Ignoranz. Der freiwillige individuelle Verzicht auf bereits verfügbares Wissen, auf technische Eingriffsmöglichkeiten in naturales Geschehen und auf verbriefte Informations- und Entscheidungsrechte kann das subjektive Wohlbefinden und Freiheitsgefühl durchaus steigern. In hochartifiziellen Gesellschaften mit demokratischen Grundsätzen sollte deshalb auch dem Recht auf (partielle) Naturbelassenheit die Anerkennung nicht verwehrt werden. An der Grundtendenz einer Steigerung der Optionen und Entscheidungszwänge wird dies aber in näherer Zukunft nichts ändern. Dies gilt übrigens ebenfalls für die Arbeitswelt, und nicht erst, wenn es um sensible Informationen über die genetischen Dispositionen von Arbeitnehmern geht. Seit Beginn der Industrialisierung ist es eine umkämpfte soziale Frage, welche leistungssteigernden Selbstmanipulationen an Körper und Geist von den Beschäftigten legitimer- oder legalerweise verlangt oder stillschweigend erwartet werden dürfen. Seit der Reanimierung der olympischen Idee geht der moderne Leistungs- und Spitzensport mit zweifelhaftem Beispiel voran bei der Überwindung von Vorbehalten gegenüber einem wissenschaftlich optimierten Mitteleinsatz zur Überwindung von Leistungsgrenzen des Menschenkörpers, nur um andere Menschenkörper hinter sich lassen zu können. In Informations- und Wissensgesellschaften hat sich diese Auseinandersetzung um Humantechnologien auf das Feld der optimalen Entwicklung und Nutzung des Gehirns ausgeweitet, sei es durch frühkindliche Förderung, mentales Training, Gehirn-Jogging oder durch den Gebrauch von Mentalstimulanzien und konzentrationsfördernden Drogen. Bildung meint heute vor allem soziale Lernbereitschaft und kognitive Lernfähigkeit, und zwar lebenslänglich. Neuro-Enhancement passt gut zum Selbstverständnis einer Wissensarbeitsgesellschaft mit generalisierter Leistungssteigerungserwartung. Dass in einer solchen Gesellschaft mentale Störungen aller Art eine große Aufmerksamkeit und Sorgebereitschaft auf sich ziehen, verwundert nicht.

Artikel zitieren

Druckfassung:
Band, Henri (2010): Ist Max Webers verstehende Soziologie naturblind? In: Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches Journal, 21(4), S. 134–147.

Erweiterte Online-Fassung:
Band, Henri (2018): Ist Max Webers verstehende Soziologie naturblind? http://homepage.alice.de/henri.band/maxnat.htm. Zugegriffen: ...

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