Henri Band
Welche Natur – und welches Soziale?
Max Webers Umgang mit dem Naturbegriff und das Begründungsproblem einer eigenständigen Sozialwissenschaft
© Henri Band 2020
Max Weber knüpft mit seinen Formulierungen zu „sinnfremden Vorgängen und Gegenständen“ in Wirtschaft und Gesellschaft an seine kursorischen Überlegungen zum Naturbegriff an, die er 1907 anlässlich seiner ausführlichen Kritik an Rudolf Stammlers Versuch einer Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung angestellt hatte. Stammlers „[a]usgesprochener Zweck“ in dessen Buch Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung sei es, „die ‚Wissenschaft vom sozialen Leben‘ als eine von den ‚Naturwissenschaften‘ schlechthin verschiedene dadurch zu erweisen, daß ‚soziales Leben‘ als ein von der ‚Natur‘ gänzlich verschiedenes Objekt der Betrachtung aufgezeigt und damit ein von der ‚naturwissenschaftlichen Methode‘ verschiedenes Prinzip der Sozialwissenschaft als logisch unvermeidlich dargetan wird“ (Weber 1988c, S. 320). Weber insistiert zurecht darauf, dass es bei einer Positionierung in dieser Frage vor allem darauf ankommt, sich über die zentralen Begriffe Klarheit zu verschaffen, die dieser Differenzierung zugrunde liegen. Da dieser „Gegensatz offenbar als eine exklusive Alternative gedacht wird, so wäre von größter Wichtigkeit offenbar die eindeutige Feststellung dessen, was unter ‚Natur‘, ‚Naturwissenschaften‘, ‚naturwissenschaftlicher Methode‘ verstanden sein, ihr entscheidendes Kriterium bilden soll“ (ebd., S. 320 f.). Der Hauptvorwurf an Stammler ist, dass es ihm in dieser für seine Begründungsstrategie zentralen begrifflichen „Lebensfrage“ nicht gelingt, für hinreichend Klarheit zu sorgen. Weber bescheinigt ihm die „Diplomatie der Unklarheit“ eines in seine „neu entdeckte ‚Weltformel‘ verbissenen Dogmatikers“, der diese durch eine vage Argumentationsweise gegen Kritik zu immunisieren versucht (ebd., S. 315 Fußnote, 306; Weber 1988d, S. 362, 371). Stammlers Referenzen auf „Natur“ und „Soziales“ bleiben diffus, logisch inkonsistent und widersprüchlich. Damit bricht der ontologische Begründungsversuch wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Kritik und die Überlegungen Webers sind also nicht nur mit Blick auf dessen eigenes Naturverständnis aufschlussreich, sondern vor allem auch hinsichtlich seines epistemologisch begründeten Verständnisses von Sozialwissenschaft. Die Versuche einer methodologischen oder gar ontologischen Abgrenzung zwischen der Natur und dem Sozialen (oder Geistigen) und den Natur- und den Sozialwissenschaften reißen zudem bis heute nicht ab. Verstand Weber also die Sozialwissenschaften im weiteren und die Soziologie im engeren Sinne als dezidiert nicht-naturwissenschaftliche Disziplinen, und dies auf der Grundlage der Annahme eines exklusiven Objektbereiches, der sich grundlegend von Naturentitäten unterscheidet?
Da Weber bei Stammler nirgendwo einen trennscharfen Naturbegriff findet, skizziert er selbst vier logisch distinkte Begriffe von „Natur“ bzw. genauer: vier Arten von Naturbegriffen, die man im alltäglichen und im wissenschaftlichen Sprachgebrauch finden kann. Zwei von ihnen verknüpft er explizit mit der Frage der Begründung des Objektbereiches und der Methodologie der Naturwissenschaften in Relation zu den Wissenschaften, die sich in irgendeiner Weise mit den Menschen und ihren kulturellen Hervorbringungen beschäftigen.
Den ersten Begriff entnimmt er dem „gemeinen Sprachgebrauch“, in dem „Natur“ bereits mehrerlei bedeuten könne: „und zwar entweder (1.) die ‚tote‘ Natur oder (2.) diese und die nicht spezifisch menschlichen ‚Lebenserscheinungen‘ oder (3.) diese beiden Objekte und außerdem auch diejenigen Lebenserscheinungen ‚vegetativer‘ und ‚animalischer‘ Art [...], die der Mensch mit den Tieren gemein hat, mit Ausschluß also der sog. ‚höheren‘, ‚geistigen‘ Lebensbetätigungen spezifisch menschlicher Art.“ (Weber 1988c, S. 321) „Natur“ wird in diesen Fällen in Abgrenzung zum Lebendigen oder zu bestimmten menschlichen Lebenserscheinungen und Vermögen definiert bzw. allgemein „als ein Komplex bestimmter Objekte gegen andere heterogene abgegrenzt“ (ebd.). Man kann diesen Begriff als ontologischen Naturbegriff bezeichnen. Seine Tradition geht bis auf Aristoteles’ Differenzierung zwischen „physis“ und „technê“ zurück. Die Naturwissenschaften, die sich an diesen Unterscheidungen orientieren, untersuchen dementsprechend besondere Klassen von Objekten bzw. Naturentitäten, während sich die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften den höheren menschlichen Betätigungen und Eigenheiten widmen. Zwingende methodologische Implikationen verknüpft Weber mit diesem Verständnis nicht. Die Besonderung der als spezifisch menschlich angenommenen höheren geistigen Lebensbetätigungen kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass zumindest diese Phänomene eher einer kulturell deutenden, denn einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zu unterziehen sind. Die von Weber eingefügten Anführungszeichen sind aber zugleich ein Indiz dafür, dass er in dieser Sache nicht unkritisch auf der Seite einer so verstandenen nur deutenden Kultur- und Geisteswissenschaft steht. Die heutige Rede von den „Lebenswissenschaften“ ist ein moderner Nachklang dieser an den Lebenserscheinungen festgemachten Taxonomie.
Der zweite Naturbegriff ergibt sich dagegen aus einer spezifischen „Betrachtungsweise“ der empirischen Wirklichkeit, und zwar mit Blick „auf das ‚Generelle‘, die zeitlos geltenden Erfahrungsregeln (‚Naturgesetze‘) hin“ in Entgegensetzung zur „Betrachtung der gleichen empirischen Wirklichkeit auf das ‚Individuelle‘ in seiner kausalen Bedingtheit hin“ (ebd.). Der Gegensatz von „Natur“ wäre dann „Geschichte“, und zu den Naturwissenschaften gehörten auch all jene empirischen Sozialwissenschaften, die nach nomothetischen Erkenntnissen streben, während die Geschichtswissenschaften „historische Individuen“ in ihrer Eigenart untersuchen und die dogmatischen Disziplinen jenseits dieses Gegensatzes zwischen einer generalisierenden und einer individualisierenden Betrachtungsweise bleiben. Dieses Verständnis von Natur und Naturwissenschaften kann man als gesetzeswissenschaftlich bezeichnen. Die erkenntnistheoretisch begründete Unterscheidung hat jedoch für Weber nur eine begrenzte und relative Gültigkeit, denn natürlich kann auch ein bestimmtes Naturereignis, wie z.B. ein Felssturz, als ein individuelles Geschehen in Raum und Zeit auf seine kausale Bedingtheit hin erforscht werden, wobei es sich in der Regel zeigt, dass es als Ereignis eben nicht allein durch generelle Gesetze erklärt werden kann (vgl. Weber 1988a, S. 66 f.; siehe auch 1988b, S. 178). Was alle empirischen Wissenschaften also verbindet, ist ihr Anliegen, zu adäquaten Aussagen über die Ursachen eines Geschehens zu gelangen. Mit Blick auf die Natur wird jedoch die zusätzliche Annahme verbunden, dass es dort überzeitliche Kausalregeln zu entdecken gäbe, die in die besondere Zuständigkeit der Naturwissenschaften fallen. Die von den Menschen frei geschöpften Kulturentitäten und frei eingegangenen und gestalteten Beziehungen weisen solche Regeln nicht auf, sondern bestenfalls gewisse Regelmäßigkeiten, weshalb ihnen die idiographische Methode angemessener ist.
Den dritten Naturbegriff erhält man, wenn man diese restriktive Annahme aufgibt und „die Gesamtheit der eine empirisch-kausale ‚Erklärung‘ erstrebenden Disziplinen denjenigen entgegenstellt, welche normative oder dogmatisch-begriffsanalytische Ziele verfolgen“ (Weber 1988c, S. 322). In diesem Fall entscheidet „der Gegensatz der Urteilskategorien (‚Sein‘ und ‚Sollen‘)“, was „Natur“ ist bzw. einer „naturwissenschaftlichen“, d.h. rein empirischen Betrachtung unterzogen werden kann. Bei einer solchen Begriffswahl falle dann auch die Gesamtheit der Objekte der Geschichtswissenschaften und ihrer Teilgebiete „unter den Begriff der ‚Naturwissenschaft‘, deren Umfang dann genau so weit reichte, als die Untersuchung mit der Kategorie der Kausalität arbeitet“ (ebd.). In diesem Sinne ist auch die Soziologie, „logisch betrachtet“, eine „‚naturalistische‘ Disziplin“, soweit sie auf empirische Fakten und deren kausale Erklärung zielt (so Weber ebd., S. 357, mit Blick auf die „Rechtsgeschichte“). Dieser Begriff lässt sich daher als empirisch-kausaler Naturbegriff bezeichnen. Das Kausalitätsverständnis umfasst nun nicht mehr, wie im Fall des zweiten Begriffes, die Annahme eines für den Naturbereich charakteristischen Reiches universaler und zeitloser „Gesetze“, sondern alle relationalen Effekte, die sich in den jeweils erforschten Phänomenbereichen beobachten und entdecken lassen, und zwar unabhängig vom Generalisierungsgrad dieser Kausaleffekte. Diese Kausalzusammenhänge können auch von einzelnen Menschen verursachte Effekte oder komplexe höhergeistige Prozesse umfassen.[1] Nach dieser Auffassung ist alles, was im Universum geschieht, „Natur“ bzw. kann grundsätzlich alles Geschehen unter der Perspektive des Naturhaften, also der konstellationsgebundenen Eigenwirksamkeit aufgefasst und erforscht werden. Das dem Menschen verbleibende Alleinstellungsmerkmal besteht nur noch darin, die einzige bekannte Naturentität zu sein, die sich einbilden kann, keine Naturentität sein.[2]
An dieser Stelle bricht Weber seine Vorstellung der Arten von Naturbegriffen zunächst ab und verweist den Leser darauf, dass er noch zwei weitere mögliche Begriffe kennenlernen wird, wobei er in einer Fußnote darauf hinweist, dass hier keineswegs „eine auch nur annähernd erschöpfende Aufzählung der möglichen und faktisch verwendeten ‚Natur‘-Begriffe gegeben wäre“ (ebd.). Er skizziert dann aber nur noch einen vierten Naturbegriff. Diesen gewinnt man durch die Abstrahierung von jenem Sinn bzw. jenen Bedeutungen, den bzw. die Menschen Objekten und Vorgängen beizulegen pflegen. Aus einer naturalistischen Sichtweise, die den in den Objekten und Vorgängen sich ausdrückenden „Sinn“ ausklammert oder einen solchen nicht ausmachen kann, ist Natur „das ‚Sinnlose‘, richtiger: ‚Natur‘ wird ein Vorgang, wenn wir bei ihm nach einem ‚Sinn‘ nicht fragen“ (ebd., S. 333). Dieser Naturbegriff beruht weder auf einem ontologischen Unterschied zwischen Entitäten noch auf einer erkenntnistheoretisch begründeten Entscheidung über den Objektivitäts- und Kausalitätscharakter der erforschten Phänomene, sondern allein darauf, ob einem Objekt oder Vorgang von Akteuren ein Sinn zugesprochen wird bzw. werden kann oder nicht, sei es nun ein metaphysischer, kosmologischer oder praktischer Sinn. Weber meint mit „Sinn“ nicht nur das, was in einem emphatischen Sinn „Sinn“ heißt, sondern z.B. auch die Bedeutung, die „das Bellen des Hundes Robinsons bei Annäherung eines Wolfes ‚hat‘“ (ebd.). Der Begriff kann daher als kulturrelativer bzw. wertbezogener Naturbegriff bezeichnet werden, insofern er in Relation zur (Nicht-)Sinngebung von Entitäten als „Natur“, d.h. als „sinnfreies Geschehen“, oder als „Nicht-Natur“, d.h. als „Kultur“ bzw. in irgendeiner Weise „kulturbedeutsam“ gebildet wird. Diese Sinnzuschreibung bzw. Sinnauslegung muss nicht unbedingt nur in der Richtung erfolgen, die Weber an dieser Stelle im Auge hat, sondern kann auch einer Wertakzentuierung mit umgekehrtem Vorzeichen folgen: der Entdeckung und Anrufung von Natur als das Sinnvollere, Wertvollere als die menschliche Kultur. Der Ruf nach einer „Rückkehr zur Natur“ stellt ein solches Wertbekenntnis dar, das einer „konkreten Kultur als Todfeind sich entgegenstellt“ (Weber 1988b, S. 180). Unter diesen Begriffstyp fällt dann z.B. auch der romantische und zivilisationskritische Naturbegriff von Rousseau, der eine positive kulturelle Sinngebung des Natürlichen vornimmt – eine Umwertung der Werte der Natur und des Natürlichen –, an die wertbasierte Naturdiskurse bis heute anschließen. Im Zuge der Ausweitung der ökologischen Kommunikation wurden die verschiedensten Naturentitäten „wertkatalogfähig“ (Luhmann 1988, S. 213) und die unterschiedlichsten Facetten des Natürlichen als werthaltig nobilitiert und propagiert.[3] Man kann darin ein weiteres Indiz dafür sehen, dass der Mensch eine „Sinnlosigkeit“ oder „Indifferenz“ von Natur auf Dauer nicht erträgt (Elias 1986)[4], sie also umdeutet, ihr nachhilft oder aufhilft, um in ihr sein Spiegel- und Ebenbild als „Homo faber“ zu sehen, sei es in Gestalt einer ihm von Gott zur Nutzung anvertrauten Schöpfung oder einer nachhaltig zu bewirtschaftenden Biodiversitätsressource.
Der wertbezogene Naturbegriff scheint für Weber keinen wissenschaftsrelevanten Status zu haben.[5] Er stellt bei diesem Begriff – wie beim Typus der alltagsweltlichen ontologischen Naturbegriffe – keine Betrachtungen zu seiner Brauchbarkeit und Ordnungsfunktion für die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften und zu seinen methodologischen Implikationen an. Doch sind es genau diese praktischen Wert- und Sinnorientierungen der Akteure, die sich allenthalben im sozialen Leben finden lassen und die mit berücksichtigt werden müssen, wenn man ein soziales Phänomen, wie z.B. den Tausch, verstehen und erklären will, denn ein spezifischer „Sinn“ wird in Tauschakten selbst kausal wirksam (Weber 1988c, S. 333 ff.), zumeist jedenfalls – sogar in irrationalen Spontankäufen, die der Stimmungsaufhellung dienen. Es verwundert also nicht, wenn Weber diesen wertbezogenen Naturbegriff in seinen grundbegrifflichen Betrachtungen in Wirtschaft und Gesellschaft anklingen lässt, um menschliche Handlungen vom reaktiven Sichverhalten oder von bloßen Naturgeschehnissen zu unterscheiden. In seiner Stammler-Kritik neigt er selbst dagegen eher dem dritten, empirisch-kausalen Naturbegriff zu, und nur auf diesen greift er gelegentlich in seinen Erläuterungen zurück (ebd., S. 335, 357). Im zweiten Stammler-Text lässt er ebenfalls eine gewisse Sympathie für den empirisch-kausalen Naturbegriff erkennen, verweist aber zugleich darauf, dass sich dieser Begriff, wie die drei anderen Arten von Naturbegriffen auch, nicht für den von Stammler intendierten Abgrenzungsversuch zwischen „Natur“ und „sozialem Leben“ und dementsprechend zwischen Natur- und Sozialwissenschaft eignet (Weber 1988d, S. 382 f.).
Weber strebt jedoch keinen eigenen, besser begründeten Abgrenzungsversuch an, sondern hält einen solchen Versuch aus wissenschaftstheoretischer Sicht generell für fragwürdig, ja müßig. Er folgt in seinem Wissenschaftsverständnis grundsätzlich einer übergreifenden naturalistischen Epistemologie.[6] Dem scheint auf den ersten Blick sein starker Kulturbegriff als Wertbegriff zu widersprechen. „Kultur“ ist für ihn „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ (Weber 1988b, S. 180) Wie das Zitat zeigt, fungiert der Kulturbegriff aber nicht nur als normativer Begriff, sondern in eher sozialwissenschaftlichen Zusammenhängen als rein empirischer Begriff zur Kennzeichnung des praktischen selektiven Zugriffes von Menschen auf Welt.[7] Hinsichtlich der Begründung der Eigenständigkeit der Soziologie als Wissenschaft besteht das Problem jedoch darin, dass die Sinndimension allein nicht ausreicht, um die Sozialdimension menschlichen Handelns analytisch trennscharf von anderen Dimensionen und Aspekten des Handelns und Verhaltens zu scheiden. Sie ist ja schon Definitionselement des Handelns. Beim sozialen Handeln kommt „nur“ die Sinnorientierung auf das Verhalten anderer anwesender oder nicht anwesender Akteure hinzu. Dadurch bleibt die Sozialdimension eigentümlich unterbestimmt. In dieser Hinsicht bereitet der Begriff des Sozialen ähnliche Definitionsprobleme wie der Begriff der Natur: er erfordert eine konzeptionelle Konturierung, wenn er wissenschaftsbegründend und erkenntnisleitend sein soll. Das hat Weber durchaus gesehen, wie seine Sondierungsversuche zu einem brauchbaren Begriff von „sozialem Leben“ in den Stammler-Texten zeigen.[8] Ein auf Sinnrelationen angelegter Begriff von „sozial“ changiert zwischen den Dimensionen des Naturalen und Kulturellen, ohne ein begrifflich trennscharfes Eigenkriterium für die Sozialdimension selbst zu benennen. So schreibt er in seinem Aufsatz „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“:
„Es ist nun kein Zufall, daß der Begriff des ‚Sozialen‘, der einen ganz allgemeinen Sinn zu haben scheint, sobald man ihn auf seine Verwendung hin kontrolliert, stets eine durchaus besondere, spezifisch gefärbte, wenn auch meist unbestimmte, Bedeutung an sich trägt; das ‚allgemeine‘ beruht bei ihm tatsächlich in nichts anderem als eben in seiner Unbestimmtheit. Er bietet eben, wenn man ihn in seiner ‚allgemeinen‘ Bedeutung nimmt, keinerlei spezifische Gesichtspunkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte.“ (ebd., S. 166)
Doch bloß um die Bedeutung bestimmter Kulturelemente kann es aber beim Begriff des Sozialen nicht gehen, zumindest zunächst nicht. Das Soziale geht nicht gänzlich in einem irgendwie gedachten Bedeutungshaften auf. In seinen Erörterungen zum vierten Naturbegriff hat Weber zurecht angemerkt, dass „die Eigenschaft, ‚sinnvoll‘ zu sein, etwas zu ‚bedeuten‘, durchaus nichts dem ‚sozialen‘ Leben Eigentümliches“ ist (Weber 1988c, S. 333).[9] Im Kern geht es beim Begriff des Sozialen um den herauszuarbeitenden Gesichtspunkt spezifisch gearteter Beziehungen, die bei Organismen auftreten.[10] Das macht die Bestimmung dieses Begriffes theoretisch-analytisch anspruchsvoller als die Definition des Begriffs der Natur, bei der man sich heute leicht dadurch aus der Affäre ziehen kann, dass man den Begriff als Dachbezeichnung für alles, was im Kosmos der Fall ist, behandelt.[11] Der Begriff des Sozialen dagegen muss spezifiziert werden – nicht nur gegenüber einem allgemeinen Begriff von Natur, sondern auch gegenüber dem Begriff der Kultur –, wenn er gehaltvoll sein soll. Zudem handelt es sich um einen Relationsbegriff sui generis, der auf Phänomene und Effekte, nicht auf Entitäten und Dinge zielt, weshalb die substantivierende Rede von „dem Sozialen“ natürlich heikel, wenn nicht irreführend ist.[12] Aber deshalb an seine Stelle den noch abstrakteren Begriff der Relation (bzw. Relationalität) zu setzen, wäre nur ein Fall von konzeptioneller Verschlimmbesserung. Relationale Phänomene und Relationen gibt es viele, und auch sie sind „durchaus nichts dem ‚sozialen‘ Leben Eigentümliches“. Deshalb war die wissenschaftliche Läuterung des Ausdruckes „sozial“ ein eher später, umstrittener und langwieriger Prozess, der im Grunde bis heute nicht abgeschlossen ist.[13]
Was macht dann aber nun genau die „Natur des Sozialen“ aus? Und handelt es sich dabei um etwas, das ebenfalls einer empirisch-kausalen und nicht nur normativ-dogmatischen oder verstehenden Betrachtungsweise unterzogen werden kann? Die von Weber in den Grundbegriffen angebotene Definition von „sozialem Handeln“ wirkt inhaltlich unterbestimmt und theoretisch unterkomplex. Handeln wird als kulturalisiertes Verhalten, soziales Handeln als kulturalisierte Beziehung zu anderen definiert, und die Perspektive scheint systematisch verzerrt bzw. verkürzt zugunsten der im Geschehen gerade aktiven Handlungsträger, folgt also der Alltagsintuition intentionaler Handlungen konkreter menschlicher Akteure. Mit dem Begriff des Sozialen ist jedoch mehr gemeint bzw. sollte mehr gemeint sein als eine unspezifische Sinnorientierung an Koakteuren der eigenen Spezies. Es geht um besondere Qualitäten von Beziehungen und Interaktionsformen, die erst bei Organismen einer bestimmten Entwicklungsstufe auftreten, und zwar in einer chronischen, d.h. deren Leben maßgeblich durchdringenden und verändernden Weise, die in ihrer „Penetranz“ deren Gehirne zu immer neuen Höchstleistungen stimuliert, was wiederum nicht ohne Folgen für die Beziehungsformen zu Koakteuren und zu anderen Entitäten bleibt. Der Begriff sollte also jene emergente Form und Logik von Beziehungen zwischen Organismen bezeichnen, die auch die Ausprägung und die Art der Sinnorientierung selbst fundamental tangieren, ja die reflexive Intentionalität und Intelligenz erst evolvieren lassen, also eben nicht nur in Sinnorientierungen und in Kommunikationen über Sinnorientierungen aufgehen oder diese als gegeben voraussetzen und nicht nur auf Beziehungen zwischen Organismen der gleichen Spezies beschränkt sein müssen. Das sogenannte Soziale bzw. die damit bezeichneten Beziehungsphänomene zwischen Menschen haben eine lange Vorgeschichte in der Evolution des Lebens, die weit in die Entwicklungsgeschichte von Organismen und von Verhaltensweisen zwischen Einzelorganismen insbesondere der eigenen Spezies zurückreicht. Erst im Zuge dieser Evolution sind nach und nach all die (vor allem neurobiologischen) Voraussetzungen und Facetten des Sozialen entstanden, die die äußerst vielgestaltigen Beziehungen zwischen Menschen ausmachen und deren grundlegende Formen sich in vielen Abstufungen auch bei anderen höherentwickelten Organismen finden lassen.[14]
Die Verlegenheit Webers, den Begriff „sozial“ bzw. „Soziales“ mit einem grundbegrifflichen Zuschnitt auszustatten, macht im Rückblick die theoretische Innovation deutlich, die mit der Entwicklung des Theorems der doppelten Kontingenz durch Talcott Parsons und dessen Weiterentwicklung durch Luhmann, der pragmatistischen bzw. systemtheoretischen Reformulierung des Sinn- und Kommunikationsbegriffes, der Auffächerung der Sinndimensionen in die Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension, der Unterscheidung von psychischen und sozialen Systemen sowie der Theorie der Koevolution dieser beiden Systeme für die Weiterentwicklung der Soziologie verbunden war – eine Innovation, die bis heute nicht von allen Soziologen und Soziologinnen hinreichend geschätzt wird. Damit allein ist freilich eine konkrete Evolutionsgeschichte des Sozialen bzw. von Sozialität noch nicht eingelöst. Doch dazu findet man inzwischen exzellente empirische Forschungsergebnisse vor allem in der Verhaltensbiologie, der vergleichenden Primatenforschung, der evolutionären Psychologie und der Neurobiologie des Geistes, die viele Erkenntnisse der Soziologie naturwissenschaftlich fundieren und nachjustieren.[15] Insofern wäre eine sich strikt antinaturalistisch verstehende Soziologie heute, mehr noch als zu Webers und Stammlers Zeiten, nur ein merkwürdiger Anachronismus (für einen öffnenden Blick Schnettler 2016).
Literatur
Bergmann, Sven (2014): Ausweichrouten der Reproduktion. Biomedizinische Mobilität und die Praxis der Eizellspende. Wiesbaden: Springer VS.
Bischof-Köhler, Doris (2011): Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. Bindung, Empathie, Theory of Mind. Stuttgart: Kohlhammer.
Cooper, Melinda (2014): Leben jenseits der Grenzen. Die Erfindung der Bioökonomie. In: Folkers, Andreas/Lemke, Thomas (Hrsg.): Biopolitik. Ein Reader. Berlin: Suhrkamp, S. 468–524.
Elias, Norbert (1986): Über die Natur. In: Merkur 40 (Heft 448), S. 1036–1048.
Herrmann, Bernd (2013): Umweltgeschichte. Eine Einführung in Grundbegriffe. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.
Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1988): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag.
Mead, George Herbert (1993): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Quine, Willard van Orman (1980): Wort und Gegenstand. Stuttgart: Reclam.
Sapolsky, Robert M. (2017): Gewalt und Mitgefühl. Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München: Hanser.
Scheler, Max (1955): Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern: Francke, S. 33–147.
Schmid, Hans Bernhard/Schweikard, David P. (Hrsg.) (2009): Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Schnettler, Sebastian (2016): Evolutionäre Soziologie. In: Soziologische Revue 39, S. 507–536.
Tomasello, Michael (2020): Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Berlin: Suhrkamp.
Weber, Max (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5., rev. Aufl., Studienausgabe. Tübingen: Mohr.
Weber, Max (1988a): Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 1–145.
Weber, Max (1988b): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 146–214.
Weber, Max (1988c): R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 291–359.
Weber, Max (1988d): Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammlers „Ueberwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 360–383.
Weber, Max (1988e): Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen: Mohr, S. 489–540.
[1] Der positivistisch anmutende Rückzug auf kausale Zusammenhänge und Effekte entspringt dem antimetaphysischen und radikal empirischen Credo dieser Welt- und Wissenschaftsauffassung. Man erhofft sich dadurch, auf der sicheren Seite zu sein und keinen überspannten Wesens- und Gesetzesbehauptungen mehr zu erliegen, die mit nicht überprüfbaren Modellannahmen und Makrokausalitäten einhergehen. Mit Blick auf soziale Phänomene erweist sich diese Hoffnung jedoch leicht als trügerisch oder unbefriedigend. Selbst wenn man sich auf die kleinste soziale Einheit der Handlungsträgerschaft zu stützen versucht – dem individuellen Akteur –, hat man es mit einem nichttrivialen Organismus zu tun, weshalb es sich als praktisch sehr schwer durchführbar erweisen kann, alle kausal relevanten Gründe, Motive und Kontexte einer Handlung aufdecken zu wollen. Zudem will sich die Soziologie ja gerade nicht nur auf die Erklärung einfacher, sinnlich greifbarer sozialer Phänomene wie eine singuläre Handlung beschränken, sondern prätendiert, die Evolution und Reproduktion komplexer sozialer Phänomene und Ordnungsbildungen einer höheren, gesellschaftlichen Aggregatebene erklären zu können, statt diese einfach nur als freie Schöpfungen von Menschen hinzunehmen. Mit Blick auf die Systemebene „Gesellschaft“ erweist sich der bleibende heuristische Wert der Methode der funktionalen Analyse und der funktionalen Erklärung, wobei es natürlich sehr verschiedene Auffassungen vom Problembezug des Funktionsbegriffes gibt und von dem, was dann „Erklärung“ genau meint (vgl. Luhmann 1987, S. 84 ff.). Es ist auf jeden Fall eine andere Art von Erklärung als jene, die sich an den konkreten Mechanismen der Hervorbringung und des Prozessierens von „etwas“ orientiert. Die Zurückstutzung des Gesamtgeschehens auf Funktionserfüllungsparameter vermag jedoch den Sinn dafür zu schärfen, was alles evolvieren muss, um Funktionen und ihre verlässliche Erfüllung in Systemzusammenhängen überhaupt erst möglich zu machen.
[2] Aus dieser Sicht genügt die polarisierende Gegenüberstellung von Mensch und Natur, trotz ihrer weiterhin bestehenden phänomenalen und lebensweltlichen Evidenz, folgerichtig keinen modernen logischen und wissenschaftlichen Standards mehr (Herrmann 2013, S. 39 f.).
[3] Heute erfährt dieses Schicksal der Aufwertung und Teilanthropomorphisierung z.B. die biologische Vielfalt, deren sukzessive Entdeckung in ihren ungeheuren Ausmaßen viele Gelehrte jedoch zunächst irritiert, wenn nicht gar zutiefst beunruhigt hatte. Schon in der Antike traute man einem Gott so ziemlich alles zu. – Aber warum diese Unmenge an Lebensformen, und dann noch diese Mikroorganismen? Das deutet doch eher auf eine mangelnde Planung und Ordnung im Kosmos und eine unendliche Verzweigung einer auch von Zufällen getragenen Evolution hin. Inzwischen gelten Vielfalt bzw. Diversität nicht nur als ein Maßstab für die Intaktheit und Robustheit von ökologischen Systemen, sondern sogar von Gesellschaften. Dabei hat sich im Grunde nichts an der Tatsache geändert, dass man nicht wirklich genau sagen kann, wofür diese Vielfalt eigentlich gut ist und worauf sie hinausläuft. Sie erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass auch ohne eine vorausschauende Intelligenz und ohne einen Telos Zweckvolles entstehen kann.
[4] Dagegen lässt sich mit Luhmann natürlich einwenden, dass es auf Sinn angewiesenen bzw. sinnprozessierenden Systemen wie dem psychischen und dem sozialen System nicht möglich ist, die Welt als völlig sinnlos zu erleben, und Sinnlosigkeit ein „Spezialphänomen“ ist, das „nur im Bereich der Zeichen“ auftreten kann (Luhmann 1987, S. 96, 110). Als sinnfrei kann die Natur erscheinen, wo sie dem Menschen als deutlich sinnärmer als die Sozialwelt anmutet, bzw. dann, wenn seine innere Stimme mal schweigt – aber wann tut sie das noch. Angesichts der modernen Kommunikationszumutungen und des Sinngebungsstresses für die eigene Existenz wird jedoch verständlich, warum die schweigsame und verschwiegene Natur als kommunikationsentlastetes und selbstgeordnetes Refugium erscheinen und genossen werden kann – und warum diese Erlebnisform von Natur als „freie Natur“ ein relativ spätes Kulturprodukt ist. „Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat“, heißt es bei Nietzsche. Wer dagegen nach sozialem Feedback lechzt, wird mit bloßer Natur nicht viel anfangen können.
[5] Das ist nicht ganz richtig. In seinem Aufsatz „Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ hat Weber (1988e) dargelegt, dass Wertentscheidungen und Wertbeziehungen bei der Wahl von Forschungsinteressen und ‑themen – und bei der Wahl eines bestimmten Wissenschaftlerberufes – eine erhebliche Bedeutung zukommt. Er insistiert aber darauf, dass die Wissenschaftskommunikationen selbst, d.h. die Darlegung von Erkenntnissen und Argumenten sowie ihre Fachkritik, „werturteilsfrei“ zu sein haben – was sie faktisch aber nicht immer sind. Doch das objektivierende Tun der Wissenschaftler hat Folgen für die Welt und wirft Wertfragen auf, und jede Wissenschaft wird mit Verwertungsinteressen konfrontiert, verdankt solchen mitunter erst ihre Ressourcen und ihre Aufmerksamkeit. Der derzeitige Boom der Lebenswissenschaften entspringt nicht allein einem wertfreien Interesse an Naturerkenntnissen um der Erkenntnisse willen, sondern wird auch von einer Bioökonomie angetrieben, die die Inwertsetzung der genetischen und molekularen Grundlagen der gesamten lebenden Natur anstrebt. (Cooper 2014)
[6] Damit ist natürlich nicht gemeint, Weber habe geglaubt, wissenschaftliche Erkenntnisse seien nicht gedanklich und sozial konstruiert, sondern die ontologische Grundannahme, dass die erforschten Entitäten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse nicht nur willkürliche Konstruktionen sind, die Wissenschaft also reale Geschehnisse verstehbar und erklärbar macht bzw. machen sollte, die sich genau so mit einer gewissen Regelhaftigkeit in der Wirklichkeit abspielen. Da sich die Naturphänomene und Naturprozesse durch die Entzauberungsarbeit der modernen Naturwissenschaften als ausgesprochen komplex und keineswegs als substanzhaft und statisch erwiesen haben, gibt es heute zumindest innerhalb der gehobenen Wissenschaftskommunikation keinen Grund mehr, aus einer wissenspolitischen oder kritischen Abneigung heraus den Rückgriff auf „Natur“ und eine „naturalistische Epistemologie“ undifferenziert als Hort des Essentialismus und Schranke menschlicher Freiheit zu brandmarken. Der naturalistische Blick vermag dagegen klugerweise daran zu erinnern, unter welchen materiellen Bedingungen und unter Hinnahme welcher Folgen etwas menschenmöglich ist oder menschenmöglich gemacht wird, und daran, dass das menschliche Gehirn irreale Vorstellungen über Wirklichkeiten entwickeln kann, die in realen Katastrophen enden können.
[7] Doch diese Offenheit des Kulturbegriffes ist eher ein Teil des Problems, statt schon eine befriedigende Lösung: Bei Weber laufen Sinn-, Bedeutungs- und Wertbegriff zu sehr ineinander, um ihr jeweiliges analytisches Potenzial auszuschöpfen, und man kann nicht immer zweifelsfrei nachvollziehen, von was hier genau die Rede ist bzw. sein soll.
[8] Für Webers abschließenden Umschreibungsversuch des Begriffes „soziales Leben“, den er aber selbst mit „spitzen Fingern“ vorstellt, siehe Weber 1988c, S. 383. Da der Text unvollendet blieb, sollte man die Ausführungen nicht als sein letztes Wort in dieser Sache auslegen.
[9] Eine Lösung des Problems besteht darin, „Sinn“ selbst als grundlegendes soziales Phänomen, als sozial konstituiert zu konzipieren, wie das George Herbert Mead in seiner behavioristischen Evolutionstheorie der Geste hin zur Lautgebärde und zum signifikanten Symbol getan hat (Mead 1993, S. 81 ff.). Bei diesem Mechanismus ist jedoch schwer auszumachen, ob dem Bedeutungsgeschehen ein Sozialgeschehen vorhergeht oder beide situationsgebunden gleichursprünglich emergieren. Sind signifizierende Äußerungen erst einmal in der Welt, kann dem Sozialgeschehen ein Kommunikationsprozess beigeordnet und vorgeschaltet werden. Darin besteht der immense evolutionäre Gewinn von sprachlichen Symbolisierungen und Aussagesystemen: Man kann für sich selbst und in der sozialen Gruppe kommunikativ Vorstellungen hervorbringen und Realitäten in Erwägung ziehen, darunter sogar solche, die noch gar nicht eingetroffen sind, die bislang keiner kennt oder die nur fingiert sind. Man kann sogar sein Bewusstsein für solche ziemlich unanschauliche Phänomene zu sensibilisieren versuchen, wie sie mit dem Ausdruck „sozial“ bezeichnet werden, und sie in geeignetere Worte zu fassen versuchen.
[10] Konsequenterweise müsste man sogar sagen: die nur bei und zwischen Organismen auftreten. Insofern ist es nicht abwegig zu statuieren, dass die sexuellen Reproduktionsbeziehungen zwischen Organismen einer Spezies und die symbiotischen, parasitären und räuberischen Beziehungen zwischen Organismen verschiedener Spezies bereits die Tür zur Welt des Sozialen geöffnet haben. Die genauere Bestimmung des Sozialen hängt dann natürlich davon ab, welche Entwicklungsstufe der Organismen und welche Beziehungsformen man als tatsächlich konstitutiv für das näher zu bestimmende Soziale oder das spezifisch menschliche Soziale ins Auge fasst. Dieses evolutionäre Erbe der organismischen Existenzform als einer Stoffwechselbeziehung zu einer Umwelt und als zunehmend eigenaktive Beziehungsform zu anderen Lebensformen ragt tief in die elaborierten Sozialitätsformen der menschlichen Spezies hinein, auch wenn sich natürlich der Formenkanon sozialer Erscheinungen stark verändert und erweitert hat. Die Entwicklung nicht nur der biologischen, sondern der mit ihr zwangsläufig einhergehenden sozialen Vielfalt begann bereits vor der Entstehung des Homo sapiens. Die Konzipierung des Sozialen als Nicht-Natur ist also schon mit Blick auf die Evolution des Lebens empirisch nicht haltbar.
[11] Dadurch wird der Terminus aber so allgemein und unspezifisch, dass er seinen Informationswert verliert, weil er keine Differenz mehr bezeichnet – außer für jene, denen das noch nicht aufgefallen war oder die einen anderen Begriff von Natur präferieren. Gleichwohl bleibt der wissenschaftliche Blick in die Natur stets spannend, da immer neue Entitäten, Effekte und Mechanismen entdeckt und beobachtet werden, die man so noch nicht kannte, und angesichts der Ausdehnung des Universums die Erwartung nicht völlig abwegig erscheint, dass uns irgendwann Außerirdische oder zumindest Informationen von außerirdischen intelligenten Lebensformen erreichen. Der zur Geselligkeit neigenden Mensch möchte auch im Kosmos am Liebsten nicht allein und auch nicht der mit den schlechtesten technischen Gadgets sein. Gerade die alle Vorstellungskraft übersteigende Ausdehnung des Weltalls könnte sich aber als der entscheidende limitierende Faktor für intergalaktische Fernbeziehungen erweisen, denn nur in der Phantasie kann man zeit- und raumenthoben herumreisen und die materiellen Grenzen vergessen, denen selbst die Übertragungsgeschwindigkeit von Informationen unterliegt.
[12] Das Problem betrifft im Grunde alle Begriffe im Kollektivsingular, zu denen auch die Termini „Natur“ und „Kultur“ gehören. Gleichwohl erfreuen sie sich, trotz aller inzwischen geleisteten Sprachkritik und Arbeit der Logiker, aufgrund ihrer Praktikabilität weiterhin einer großen Beliebtheit, selbst unter Sozialwissenschaftlern. Das verleitet einige Puristen des relationalen Denkens und der dekonstruktivistischen Diskurskritik zur unkollegialen Extremposition, viele Soziologen hätten das relationale bzw. nichtsubstantialistische Denken erst noch zu entdecken und zu erlernen. Wer würde nicht zu gern den holden Fach-Prinzen geben, dem das Glück zufiele, ein schlafendes Schneewittchen aufzufinden und wachzurütteln, um es dann auf seinem Paradigma-Steckenpferd in den eigenhändig erbauten Theorie-Palast geleiten zu können! Leider ist die Prinzessin schon seit längerem eine putzmuntere, wenn auch nicht immer märchenhaft schöne erwachsene Wissenschaft. Das berechtigte Unbehagen an der Formel „Soziales nur durch Soziales erklären“ speist sich unter anderem auch daraus, dass sie eine konkrete Gegenstandsbezogenheit vermissen lässt und den Eindruck vermitteln kann, man hätte es gleichsam mit einem sozialen Äther zu tun, d.h. mit einem die zwischenmenschliche Realität durchdringenden Medium, das in sich und durch sich selbst fortwirkt. Dieser Eindruck lässt sich aber nicht allein am Vorkommen der Wörter „sozial“, „Soziales“ festmachen, sondern es ist die jeweilige grammatikalische Rolle zu berücksichtigen, die sie in Sätzen spielen, sowie fairerweise auf die jeweilige Intention der Sprecherin bzw. des Sprechers zu achten. Obwohl, wie Willard van Orman Quine einmal bemerkte, das Englische (und analog das Deutsche, wie die Reclam-Ausgabe von Wort und Gegenstand diese Passage, vom Original abweichend, sinn- und sachadäquat übersetzt) „die Unterscheidung von Substantiv und Adjektiv auf die leichte Schulter nimmt“ (Quine 1980, S. 176), indem es u.a. die Substantivierung von Adjektiven zulässt und wie bei Massensubstantiven zwar ihre Verwendung mit bestimmten, aber nicht mit unbestimmten Artikeln oder der Pluralendung erlaubt, kann man mit Massentermini zu sinnvollen und brauchbaren Aussagen gelangen, z.B.: „Menschen sind von Natur aus sozial“ (im Sinne von „soziale Tiere“) oder: „Das Soziale ist ein Produkt der natürlichen Evolution“ oder, Nietzsches Zarathustra etwas korrigierend: „Der Mensch ist der blitzgescheite ‚Überaffe‘ aus der dunklen Wolke ‚Natur‘.“ Trivial ist der Umgang mit diesen Termini aber beileibe nicht, denn wir haben es, um noch einmal Quine zu paraphrasieren, bei den Bezeichnungen „Soziales“ und „sozial“ nicht nur mit dem Problem zu tun, dass einmal wie von einer Sache und einmal von einer Eigenschaft die Rede ist, wobei das je nach Innigkeit des Gegenstandsbezuges und der sprachlichen Verwendungsweise mehr oder weniger konkret bzw. abstrakt gemeint sein kann, sondern auch damit, dass es sich um Namen für ein sehr verstreutes und trotz seiner Omnipräsenz schwer fassbares Phänomen handelt, dessen Identität und Erscheinungsformen äußerst vielfältig, veränderlich und nicht klar und verbindlich umgrenzt sind – ähnlich dem „Wasser“, das Quine als Beispiel für einen „verstreuten Gegenstand“ heranzieht, der noch dazu in Form verschiedener Entitäten wie „Seen, Tümpel, Tropfen und Moleküle“ und in ganz unterschiedlichen Aggregatzuständen auftreten kann (ebd., S. 177 ff.). Die chemisch präzise Definition von Wasser als H2O ist ein spätes wissenschaftliches Produkt. Sie ist Freunden von Mineralwassern, die auf ganz bestimmte Quellen und Inhaltsstoffe schwören, aber wiederum deutlich zu wenig des Guten. Immerhin hat das Wort „Wasser“ den Vorteil, ein für den Alltagsgebrauch zumeist gut handhabbarer und wenig strittiger Stoffterminus zu sein. Das kann man vom Ausdruck „Soziales“ nicht sagen, der zwar selbst in soziologischen Fachtexten gern und häufig benutzt wird, aber doch alles Mögliche meinen kann, was seinen einvernehmlichen Gebrauch als Beobachtungsterminus erheblich erschwert. Deshalb ist der fortlaufende Streit um den richtigen Gebrauch von Worten und Begriffen – noch dazu, wenn sie menschliche Angelegenheiten betreffen – nicht aus der Welt zu schaffen, sondern ein weiterer Beleg dafür, dass der Mensch ein „zộon politikon“ ist und die Evolution der Sprachen die Verständigungsmöglichkeiten und Verstehensprobleme potenziert hat. Weshalb die Menschen wiederum sehr lange brauchten einzusehen, dass Streit und Dissens zu ertragen und in friedliche Bahnen zu lenken ist.
[13] Kristallisationspunkte der theoretischen Konturierung des Begriffs des Sozialen waren und sind u.a. die Debatten um Intersubjektivität, um Kooperation und um Intentionalität (für einen Überblick siehe Schmid/Schweikard 2009). Im Alltagssprachgebrauch fungiert dagegen der Ausdruck „sozial“ weiterhin zumeist als positiv konnotierter normativer Erwartungsbegriff an die Qualität von zwischenmenschlichen Beziehungen, Ordnungsgebilden, Praktiken, Zukünften und politischen Programmen. Eingedenk dessen wird verständlich, warum das vorsorgliche Einfrieren von unbefruchteten Eizellen ohne medizinische Indikation zwecks möglicher Realisierung einer späteren Schwangerschaft in einem höheren Alter als „social freezing“ bezeichnet werden kann und einige Firmen es ihren Mitarbeiterinnen sogar anbieten, die Kosten dafür zu übernehmen. Viele Menschen legen auf ein „freieres“ Handeln gegenüber Naturgegebenheiten Wert, gehen dabei jedoch das Risiko ein, sozial produzierten Erwartungen und Zwängen Folge zu leisten oder dessen bezichtigt zu werden. Setzt man sich die dicke wertphilosophische Hornbrille von Max Scheler auf, ist der „Aktwert“ einer „künstlichen“ Befruchtung sogar am höchsten, wenn und sofern das „Opfer“ der Eizellen und des Spermas aus reiner Liebe, d.h. gänzlich frei und freiwillig erbracht und die Keimzellen ebenso frei miteinander verschmolzen werden: nur um der Liebe und nicht um einer anderen Person, einer mangelnden Fruchtbarkeit oder kommerzieller und biomedizinischer Interessen willen. Ein solches Kind ist gezeugt nach dem deutschen Reinheitsgebot der Philosophie. Dagegen verbleibt ein in einem „natürlichen“ Geschlechtsakt gezeugter Embryo in den Bahnen sozialer Paarbeziehungen, sinnlichen Begehrens, irdischer Zwecke und der Fortschreibung der biologischen Gesetze des Lebens. Solche hochgreifenden wertphilosophischen Erwägungen spielen in heutigen Reproduktionsentscheidungen sicherlich kaum eine Rolle, sie klingen aber in den normativen und ethischen Debatten um die neuen Reproduktionstechnologien und den verantwortungsvollen Umgang mit ihnen durchaus in verschiedenen Abschattierungen immer wieder an. Wie verwickelt die Motive und Interessen der Akteure sowie die Bedeutungen ihrer Praktiken sein können und welche moralischen Verstrickungen sich daraus ergeben, hat Sven Bergmann (2014) in einer exzellenten ethnografischen Studie zur internationalisierten Praxis der Eizellspende nachgezeichnet. Die Idee der überlegenen menschlichen Größe des „Aktwertes“ der christlichen Liebe, weil und insofern sie „die Liebe selbst“ ist, d.h. ohne weltliche Beimischungen auskommt, entwickelte Scheler unter anderem in seiner Schrift „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ (Scheler 1955, S. 70 ff.). Deshalb sah er in der modernen, allgemeinen Menschenliebe eine Abkehr von dieser reinen Idee und eine Hinwendung des Menschen auf sich selbst und die von ihm geschätzten Wohlstandsgüter.
[14] Die Annahme einer strikten Instinktgebundenheit und genetischen Vorprogrammiertheit allen tierischen Verhaltens hat sich inzwischen erheblich relativiert und als Artefakt stark eingeschränkter Beobachtungsperspektiven erwiesen. Auch Tiere haben es mit komplexen Umweltgegebenheiten zu tun, müssen sich raum-zeitlich orientieren, mit Artgenossen interagieren und ihr Verhalten an wechselnde Situationen anpassen können, also in einem gewissen Grade lern- und kommunikationsfähig sein. In ihren Genen stecken nicht nur fixe Programme, sondern Optionen, die durch Umweltparameter und durch das eigene Verhalten aktiviert oder deaktiviert werden können.
[15] Einen wissenschaftlich profunden wie unterhaltsamen Überblick bietet z.B. Robert M. Sapolsky (2017). Die Forschungen zu den Voraussetzungen, Grundlagen und Formen der Evolution sozialen Verhaltens sind inzwischen sehr weit gediehen und kaum noch zu überschauen. Für die Psychologie siehe z.B. Doris Bischof-Köhler (2011), für die vergleichende Primatenforschung z.B. Michael Tomasello (2020).
Artikel zitieren
Band, Henri (2020): Welche Natur – und welches Soziale? Max Webers Umgang mit dem Naturbegriff und das Begründungsproblem einer eigenständigen Sozialwissenschaft. http://homepage.alice.de/henri.band/wenatsoz.htm. Zugegriffen: ...