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Henri Band

"Haben Sie ...?" – "Ham wa nich!"

Ina Merkel auf den Spuren der Konsumkultur in der DDR

Rezension gekürzt erschienen in: Der Tagesspiegel, 20. August 2000, Seite W 5. Eine ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Buch und dem Thema finden Sie hier ...

© Henri Band

Artefakte aus dem Alltag der DDR sind in. Kultfibeln und Devotionalienhändler vermarkten sie als schrille Blüten einer sozialistischen Trash-Kultur. Besonders jüngere Leute, die sich von den Rücksichten der Vergangenheitsbewältigung ironisch verabschiedet haben, pflegen ein demonstrativ kultisches Verhältnis zur Objektkultur der DDR. Diejenigen dagegen, die mit der SED-Diktatur nur schlechte Erinnerungen an eine Mangelgesellschaft verbinden, werden schon die Rede von einer "sozialistischen Konsumkultur" für unpassend halten. Am verbreitetsten ist im Osten aber derzeit eine Teilrehabilitierung der Alltagskultur der DDR, die sich aus einer Abwehrhaltung gegenüber der westdeutschen Kultur speist. Der schnöde Konsumalltag von einst gerät darüber zunehmend in Vergessenheit.

Dieser Alltag spielte für Stabilität und Zerfall der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR eine Schlüsselrolle. Mochte auch nach offizieller Doktrin der Arbeitsplatz der Kampfplatz für den Weltfrieden sein, der Kampfplatz für den inneren Frieden war die Konsumwelt. Der Systemwettbewerb zwischen Kapitalismus und Sozialismus ging auch und vor allem auf dem Schlachtfeld des Konsums verloren.

Die Berliner Kulturwissenschaftlerin Ina Merkel hat es unternommen, die Geschichte der Konsumtionsverhältnisse in der DDR aufzuarbeiten. Die Abschaffung der Lebensmittelkarten und des Rationierungssystems für Waren des Grundbedarfs 1958 markierte den Übergang von der Bedarfsdeckung zur Bedürfnisbefriedigung und zu einer Teilmodernisierung der Konsumwelt unter sozialistischem Vorzeichen. In den 1960er Jahren war die paternalistische Konsumpolitik noch um eine Umsetzung sozialistischer Ideale und eine Erziehung der Bedürfnisse bemüht. Nicht Konsumverzicht und Askese, aber auch nicht Luxuskonsum für alle war die Programmatik, sondern Konsumreduktion auf das Notwendige, Gebrauchswerte, verbunden mit dem Ziel einer kontinuierlichen Wohlstandssteigerung. Das persönliche Glück sollte nicht im Besitz möglichst vieler materieller Güter, sondern in der Vergesellschaftung der eigenen Individualität gefunden werden, die im Herrschaftsalltag vor allem an der Folge- und Mitmachbereitschaft gegenüber Partei, Staat, Massenorganisationen und Betrieb gemessen wurde. Dem staatlicherseits vertretenen Anspruch einer immer besseren Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung lag jedoch ein stationäres und egalitäres Bedürfniskonzept zugrunde, das sich um die Dreifaltigkeit von Arbeit, Brot und Wohnen drehte. Mit der Machtübernahme von Erich Honecker begann der endgültige Abschied von den utopischen Momenten des sozialistischen Bedürfniskonzeptes zugunsten einer Orientierung an westlichen und kleinbürgerlichen Mustern des Konsums. Die DDR mutierte zu einem sozialistischen Wohlfahrtsstaat mit beschränkter Haftung, der hinter den Konsumerwartungen seiner Bürgerinnen und Bürger mehr und mehr zurückblieb.

Die von Merkel herangezogenen Dokumente aus Archiven der Parteien und Massenorganisationen belegen, wie intensiv Fragen der Versorgung auf allen Ebenen der Gesellschaft reflektiert, jedoch selten in aller Öffentlichkeit diskutiert wurden. Die 1000 kleinen Dinge des täglichen Bedarfs, der Dienstleistungen und Reparaturen beschäftigten wiederholt das Politbüro. Fehlender Würfelzucker in den Geschäften bereitete den SED- und Wirtschaftsfunktionären schlaflose Nächte. Die Weihnachtsversorgung der Bevölkerung geriet alljährlich zur Staatsaktion. Doch aller politischer Eifer konnte nicht verhindern, dass das Angebot der Nachfrage hinterherhinkte. Der Kardinalfehler steckte im planwirtschaftlichen System selbst und daran wagte keiner ernsthaft zu rühren.

Dabei herrschte seit den 1960er Jahren kein existenzieller Mangel an lebenswichtigen Grundbedarfsgütern mehr. Es gab Bockwürste ohne Ende, nur nicht immer den Senf dazu. Die DDR war keine bananenfreie Zone, aber das ständige Defizitangebot an Südfrüchten verbreitete allgemeinen Weltschmerz. Alles wurde irgendwann und irgendwo mal knapp. Öfter in der Provinz, seltener in Berlin. Z.B. Wattetupfer, Strumpfhosen, Servietten, Schlitten, Windeln, Tomatenmark, Spielzeug ... – alles Dinge, deren Fehlen eine ärgerliche Störung des Alltags verursachte. Es wurde am Bedarf vorbeiproduziert, und die Warenstreuung blieb ein nicht aufzuklärendes Mysterium. Gab es was, war Kaufen über den unmittelbaren Bedarf hinaus eine unverzichtbare Tugend, sonst ging einem womöglich mitten in der schönsten Kaffeerunde die gezuckerte Kondensmilch aus. Von Autos wollen wir an dieser Stelle schweigen: ein ostdeutsches Männertrauma. Dass manchmal keine Ersatzkerzen für elektrische Christbaumbeleuchtungen aufzutreiben waren, mochte mancher für eine perfide Säkularisierungsstrategie der SED halten. Aber selbst das "Neue Deutschland" war nicht alle Tage und zu später Stunde am Zeitungskiosk vorrätig. Es war allerdings schon etwas leichter zu bekommen als das ostdeutsche Playboy-"Magazin" in Kleinformat. Ein schwerer Fall von Bückware.

Man konnte stolz auf das Geschaffene sein, wenn man es erstanden hatte. Und erst recht, wenn es auch noch funktionierte. Natürlich war nicht alles schlecht im Osten. Die Bäckerbrötchen waren noch keine lebensmitteltechnisch aufgeblasenen Krümelmonster. Dumm dran nur, wer nachmittags welche haben wollte. Auch ein Liter Fassbier kostete noch nicht ein Mehrfaches der gleichen Menge Benzin, wenngleich manche Sorten etwas nach ebendiesem schmeckten.

Kurzum: die Versorgungslage war nicht völlig hoffnungslos, sie war zermürbend. Ein kollektives Zähneknirschen ging durchs Land. Man meckerte, wo der Sozialismus nicht hielt, was er durch die Stimme der Partei versprach. Gelegenheiten dazu boten sich reichlich. Es gab keine Kneipenrunde, in der nicht irgendwann Versorgungsmängel diskutiert wurden. Es war zum Davonlaufen, nicht zum Revoltieren. Dazwischen ein Häuflein Konsumverweigerer mit politischen Ambitionen zu Höherem. Sie sollten später während der Wende einen Kurzauftritt erhalten.

Das Mangelangebot schürte den Verfall der Verkaufskultur. Das Verhältnis zwischen den Verkäuferinnen und den Kunden war von Macht und Ohnmacht geprägt. Unlust am Verkauf auf der einen und Frust beim Kauf auf der anderen Seite bildeten ein explosives Gemisch. Nicht genug, dass die Partei die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränkte, auch untereinander machten sie sich das Leben schwer. Das heute so oft beschworene ostdeutsche Gemeinschaftsgefühl war damals an Beziehungsnetze gebunden, jenseits derer man nicht unbedingt einen Anspruch auf einen freundlichen Umgangston genoss.

Doch es gab auch kapitalistische Konsumenklaven mit einer bürgerlichen Verkaufskultur. Die Devisennot kannte kein sozialistisches Gebot, und so blühten die Intershops im Halbverborgenen groß auf. Für Normalkonsumenten, die Westzahlungsmittel und -verwandte entbehren mussten, wurden ab den 1960er Jahren Exquisit-Läden für Bekleidungsmode und Delikat-Geschäfte für gehobene Gaumenfreuden geschaffen. Durch die Einrichtungen sollte der wachsende Kaufkraftüberhang abgeschöpft und gewinnorientierte Preise auf immer mehr Waren ausgedehnt werden. Gleichwohl waren selbst diese Geschäfte der kumulierten Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger nicht voll gewachsen.

Komplementär zur lückenhaften Versorgungssituation bildete sich ein ganzes Set von individuellen Strategien des Erwerbs der begehrten Güter und Dienstleistungen heraus. Das Einkaufen war nur eine Praxis unter vielen. Nicht von ungefähr bevorzugte man im Alltag den treffenderen Ausdruck "besorgen". Für Shopping im Sinne eines Erlebniseinkaufsbummels durch reich bestückte Konsumtempel bot der Alltag selten Gelegenheit. Einkaufen war Beschaffungsarbeit, zu der man auch schon mal den Arbeitsplatz vor dem Feierabend verließ. Denn seinerzeit bestand die große Kunst darin, zur rechten Zeit am rechten Auslieferungsort zu sein. Hatte man diesbezüglich keine verlässlichen Insiderinformationen, mussten die betreffenden Geschäfte regelmäßig abgegrast werden. Merkel bietet einen kurzweiligen Schnelldurchlauf durch die systemkonformen und nonkonformen Erwerbsstrategien wie Schlangestehen, Herumrennen und Suchen, Selbermachen, Vordrängeln, Tauschgeschäfte, Stehlen, Schmuggeln, Westgeschenke, Horten und Hamstern, Beziehungen und Bestechung, die von der hohen Beschaffungskreativität gelernter DDR-Bürger zeugen.

Zum Schluss ihres Buches geht die Autorin den individuellen Praxen des Gebrauchs und Verbrauchs von Gütern in der DDR und ihren bis in die Gegenwart reichenden mentalitätsprägenden Wirkungen nach. Interviews mit Zeitzeugen fördern einige Eigenheiten des ostdeutschen Konsumverhaltens an den Tag: ein hohes Maß an Behutsamkeit im Umgang mit den DDR-Produkten, die die Nachwendeanschaffungs- und -vermüllungswellen überlebt haben, und die sich bis zur kultischen Verehrung steigern kann, eine auf Werterhalt zielende Gebrauchs- und Reparaturmentalität, ein ausgesprochener Sinn fürs Praktische und Solide, eine Ablehnung der Wegwerfmentalität, eine Reserve gegenüber allzu schnellen modischen Wechseln. Die Äußerungen der Interviewten sind allerdings stark in die deutsch-deutschen Debatten eingebunden und gegen Negativurteile über das Leben in der DDR gesprochen. Auf diese Weise entsteht ein eher verklärendes Bild der ostdeutschen Konsumkultur, statt eine ethnographisch genaue Dokumentation der damaligen und heutigen Konsumpraxis. Unter der Hand nehmen die Ex-DDR-Bürger Züge des edlen Wilden an, der den Versuchungen der westlichen Konsumgesellschaft – noch bzw. wieder – zu widerstehen vermag.

Diesem Bild gilt es gründlich zu misstrauen, zumal einige der Befragten selbst einräumen, dass sie damals über das DDR-Zeug ganz anders gedacht haben und "vieles ganz oft einfach Scheiße" fanden. Als Ergänzungslektüre empfiehlt sich daher der von der selben Autorin herausgegebene Band mit Briefen an das Fernsehen der DDR, der in einer stark erweiterten Neuausgabe erschienen ist.

Literatur

Merkel, Ina (1999): Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln, Weimar, Wien: Böhlau.

Merkel, Ina (Hrsg.) (2000): "Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation!" Briefe an das Fernsehen der DDR. Stark erweiterte Neuausgabe. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag.

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